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Mit Rückenwind der Talbevölkerung auf Erfolgskurs: Biennale Bregaglia

Kunstwerk auf Wiese, drei Frauen
Die beiden Kuratorinnen Anna Vetsch und Bigna Guyer mitten in der Installation der Künstlerin Nilbar Güreş. Michel Gilgen

Zum zweiten Mal lockt die Biennale Bregaglia das Kunstpublikum ins Bündner Hochtal. Das diesjährige Kuratorinnenduo Bigna Guyer und Anna Vetsch hat einen gut proportionierten Parcours durch Vicosoprano konzipiert, der modellhaft für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in abgeschiedenen Tälern sein könnte.

«Du hast nicht nein gesagt, richtig?» Die rhythmisch im Chor gesprochene Suggestivfrage sorgt im Dämmerlicht eines alten Holzstalls für Gänsehaut. Die Stimmen begleiten filmische Nahaufnahmen von einem lodernden Feuer, von Händen, die getrocknete Kräuter verarbeiten, von einer Gestalt, die Asche in einen sprudelnden Fluss streut. Da fegt ein ungestümer Wind durch das lückenhafte Gebälk des Stalls und versetzt die den Bildschirm rahmenden, blau-transparenten Stoffvorhänge in Wallungen, als würden auch sie sich empören über das offenkundig ungerechte Verhör, das hier im Gange ist. Die Richter:innen variieren ihre Unterstellungen im Laufe des kurzen Films, doch schliesst jede «Frage» mit der Vergewisserung, die im Bergeller Idiom BargaiotExterner Link besonders eindringlich klingt: «Giüst? Giüst? Giüst?»   

«Richtig», es ist wieder Biennale im schönen BergellExterner Link und das neue Video von Lena Maria ThüringExterner Link ist eines von rund zehn eigens dafür entstandenen Werken. Die Zürcher Künstlerin hat tief in der Geschichte des beschaulichen Büdner Tals gegraben, um Protokolle von historischen Bergeller Hexenprozessen und von Befragungen heutiger weiblicher Gewaltopfer zu einem scharfsinnigen und dabei poetischen Zeitraffer über Unterdrückung und Ermächtigung der Frau, über Wertewandel, Furcht und Mut zu verdichten.

Videoinstallation / Stein auf Fenstersims
Lena Maria Thüring, Down the river, 2022, Videoinstallation Michel Gilgen

Vertont wurden die Texte vom lokalen Gesangschor, die Bildebene stammt von gestellten Szenen am Fluss Mera, der das Tal durchzieht, und von Aufnahmen aus der Fabrikation der Soglio-Produkte AG, die heute pflegende Schönheitsprodukte aus regionalen Pflanzen herstellt. Damit bildet Thürings Biennale-Beitrag nicht nur ein Highlight der Schau, sondern auch ein «Maximum an Ortsspezifik», wie die beiden diesjährigen Kuratorinnen Bigna Guyer und Anna Vetsch es auf einem öffentlichen Rundgang im heissen Juli formulieren.      

Das Volk hat ja gesagt

Auch wenn viele der Angereisten die Ausstellung in einer nahtlosen Reihe mit früheren Projekten sehen, die der Trägerverein Progetti d’Arte in Val BregagliaExterner Link mit dem Churer Kurator und Galeristen Luciano Fasciati seit 2012 im Tal realisiert hat, markiert diese aktuelle Schau die Halbzeit eines Versuchs, eines Novums, eines politischen Konsenses: 2019 wurde die Bergeller Bevölkerung danach gefragt, ob sie eine Kunstbiennale für vorerst drei Ausgaben mittels Leistungsvereinbarung über 245’000 Schweizer Franken mittragen möchte. Und sie hat ja gesagt.

Der Abstimmungserfolg kann als starkes Zeichen für die Kunst gelesen werden, aber ebenso als Hoffnung in das ökonomische Potenzial, das solch boomende Freilichtausstellungen in abgelegenen Bergregionen im Schlepptau führen – namentlich den Tourismus. Dieser Effekt ist auch an besagtem Veranstaltungswochenende deutlich spürbar: Das Publikum nächtigt in Hotels von Maloja bis Promontogno, denn die beiden Gaststätten in Vicosoprano, dem Hauptschauplatz der diesjährigen Biennale, sind ausgebucht; in der Gartenbeiz wird das vernördlichte Trendgetränk Aperol Spritz getrunken und im Dorfladen, der aktuell auch eine neue Videoarbeit von Rico Scagliola & Michael Meier zwischen seiner Ware präsentiert, sind die Nusstorten knapp geworden. Dabei wäre die hiesige Spezialität ja eigentlich Kastanientorte …

Videoinstallation im Dorfladen
Rico Scagliola & Michael Meier, I resti del giorno, 2022, digitales Video, 6-teilig Michel Gilgen

Erfolgsversprechende Dimensionen

Besagtes Video des Zürcher Duos Scagliola & Meier hat in allen sechs Bergeller Lebensmittelläden einen Auftritt und bildet damit eine örtliche Ausnahme der aktuellen Schau. Wie schon Luciano Fasciati, der 2020 noch die erste Ausgabe der «Test-BiennalenExterner Link» kuratierte, haben sich auch Guyer und Vetsch für ihre Ausstellung in kluger Bescheidenheit auf eine einzelne Ortschaft, Vicosoprano in der Mitte des rund 30 Kilometer langen Tals, konzentriert. Das hat den Vorteil, dass man die Werke gut an einem Nachmittag besichtigen kann – anders als beispielsweise bei der gleichzeitig stattfindenden, ebenfalls noch jungen Art SafientalExterner Link, bei der die Kunsttourist:innen am Ende per Postauto oder gar mit dem Auto von Station zu Station reisen.

Ist die überschaubare Dimension vielleicht mit ein Erfolgsrezept für zyklische Ausstellungen in Bergtälern? Die Môtiers – Art en plein Air im Val-de-TraversExterner Link beispielsweise ist als Spaziergang von zwei bis drei Stunden konzipiert und findet in Abständen von rund vier Jahren immerhin schon seit 1985 statt. Eine solch zeitlich langfristige Perspektive wünscht man auch der Biennale Bregaglia. Momentan scheint sie auf Kurs: Bis zum Redaktionsschluss dieses Textes Anfang August hat die Schau von Guyer und Vetsch «über den Daumen gepeilt» eine stattliche Zahl von rund 4500 Besuchenden angelockt, wie es auf Anfrage heisst.       

Dorfansicht
Das ehemalige Rathaus von Vicosoprano mit dem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erbauten Rundturm im Val Bregaglia. Keystone / Christian Beutler

Entdeckungen auf kleinem Raum

Zwölf Werke von mehrheitlich nationalen Kunstschaffenden haben die beiden Kuratorinnen an ausgewählten Lokalitäten innerhalb des Dreihundert-Seelen-Dorfes Vicosoprano platziert. Sie öffnen dabei oft Türen zu sonst unzugänglichen oder unwirtlichen Orten, die mit der Kunst in ein fruchtbares Zwiegespräch treten: Ein reich mit Sgraffiti verziertes historisches Haus im Dorfkern, das seine Geschichte für eine halbe Dekade hinter dicken Mauern und verschlossenen Türen verschwieg, wird zum Schauplatz für einen gewaltigen neuen Bilderzyklus von Andriu Deplazes. Er erzählt von existenzieller Vereinzelung im zwischenmenschlichen und familiären Gefüge. In einer «wild» gewachsenen Container-Zeile entlang des Flusses, von den Dorfbewohner:innen in den 1960er-Jahren als Garagen installiert, zeigt die Zürcher Künstlerin Alexandra NavratilExterner Link einen assoziativ atemberaubenden filmischen Zusammenschnitt von – natürlich auftretenden oder unter teils fragwürdigen Bedingungen provozierten – kreatürlichen Reflexen.

Stall mit Ölgemälden
Andriu Deplazes, Körper an Körper, 2022, Öl auf Leinwand Michel Gilgen
Auge schaut aus Container
Alexandra Navratil, The Fluttering Being, 2022, HD-Video, Farbe/Ton, 5’ 20’’, Klangkomposition von Natalia Dominguez Rangel Michel Gilgen

Derweil hat sich in den zahlreichen Dorfbrunnen des Ortes mit Sina eine Art Bergeller Pippi Langstrumpf eingenistet. Ihre Schöpferin, die junge Lausannerin Zoé Cornelius, hat mit diesem zauberhaften Konzept einen im Vorfeld der Biennale ausgeschriebenen Wettbewerb für Nachwuchskünstler:innen gewonnen.

Reflektion von Kühen im Wasser
Zoé Cornelius, Sina, 2022, 11 Fotografien auf Metall Michel Gilgen

Hinter verschlossenen Fensterläden in einem kompakt proportionierten Hausanbau haben Vetsch und Guyer zudem ein Holzlager ausfindig gemacht, das wie gemacht schien für eine der drei nicht ortsspezifisch entstandenen Arbeiten dieser Biennale: In dem Film Ever Since We Crawled Out von 2018 verdichtet der gefeierte Auslandschweizer Julian CharrièreExterner Link gesammelte Archivfilme von Baumfällungen zu einer schwindelerregenden Kaskade des Fallens und Fallens und Fallens. Beim wiederholten Anblick der jahrhundertealten Riesengewächse, die durch einen sauberen Schnitt zu Boden stürzen, öffnet sich jäh wieder die ganze Abgründigkeit der menschlichen Spezies, die uns in einer anderen Ausprägung schon im Film von Thüring so sehr unter die Haut ging.

Film in Holzschopf von gefälltem Baum
Julian Charrière, Ever Since We Crawled Out, 2018, HD-Schwarz-Weiss-Video Michel Gilgen

Konzeptuelles Hintergrundrauschen

Zwar gerät bei all dem das übergeordnete Motto der aktuellen Biennale Bregaglia, die «Verbindung der Bergeller Dörfer untereinander», etwas aus dem Blick. Guyer und Vetsch haben die thematische Engführung einerseits in Bezug auf die Ortswahl neu gedeutet und sie andererseits im konzeptuellen Überbau ihrer Ausstellung sowie im Rahmenprogramm verankert, um den Kunstschaffenden und ihren Werken danach freie Entfaltungsmöglichkeit zu lassen: «Uns interessierten insbesondere die Infrastrukturen des Tals, seine Geografie, seine Rolle als Handelsroute in den Süden, der Bau der Passstrasse nach Maloja, die Hexenprozesse sowie das Dorfbild von Vicosoprano», erklären sie ihre Ausgangsüberlegungen im Begleitkatalog und auf besagtem Rundgang im Juli. Die erwähnten Aspekte schwingen in den gezeigten Arbeiten oder in ihrer Platzierung mit, drängen sich aber nicht auf. Und das ist gut so.

Denn schliesslich geht es bei einer solchen Freilichtausstellung ja vor allem um das Erleben und «Ergehen» der Kunst, um das gleichzeitige Entdecken eines Ortes und um das Gefühl, in dieser Mixtur aus Berg- und Kunstlandschaft für kurze Zeit dem Alltag zu entrinnen, um im Spiegel der Kunst der Welt neu zu begegnen. Richtig? Giüst!

«Biennale Bregaglia 2022»: Vicosoprano, bis 24. September 2022.Externer Link

Laterne schweben über einem Bach
Nevin Aladağ, Color Floating, blue green, 2021, verschiedene Metalle, farbige Nylon-Strümpfe, LED-Draht, 55 x 100 cm Michel Gilgen

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