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Die erste Frau im Männerbund – eine Schweizerin

Ein Orchester
Die Berliner Philharmonie. Monika Rittershaus

Es war eine kleine Sensation in der Klassikwelt, als die Schweizerin Madeleine Carruzzo im September 1982 als erste Frau in die Runde der weltbekannten Berliner Philharmoniker aufgenommen wurde. Neben ihr und Bettina Sartorius spielen heute vier weitere Eidgenossen in dem Orchester.

100 Jahre lang waren die 1882 gegründeten Philharmoniker ein reiner Männerbund gewesen, als Madeleine CarruzzoExterner Link zum Vorspiel nach Berlin eingeladen wurde. Dort musste sie das Orchester und nicht nur den damaligen Dirigenten Herbert von Karajan überzeugen. In dem Berliner Traditionsorchester wählen die Musiker ihre Dirigenten und ihre neuen Kollegen gemeinsam aus. «Sie saßen allesamt auf den Zuschauerrängen als ich vorspielte und zogen sich dann zur Beratung zurück», erinnert sich die in Sion geborene Violinistin an die für sie so spannenden Stunden.

Es war ihr erstes Vorspiel überhaupt, neben ihr hatten die Berliner zwölf Männer in die Philharmonie gebeten. Madeleine Carruzzo trug auf der Violine Mozart und Bach vor und es lief sehr gut, so erinnert sie sich. Wenige Stunden später stand die Entscheidung fest. Sie war schlicht die beste in der Runde der Bewerber gewesen. Es gab einfach keinen Grund mehr, ihr als Frau die Mitgliedschaft in dem Orchester zu verwehren. Schliesslich ist die musikalische Qualität des gesamten Klangkörpers das oberste Ziel aller.

Ein Orchester
Simon Rattle dirigiert das Berliner Orchester an der Berliner Philharmonie. Monika Rittershaus

Derzeit spielen sechs Schweizerinnen und Schweizer bei den Philharmonikern. Dann und wann treten sie in kleiner Formation als «Schweizer in der Berliner Philharmonie» auf oder treffen sich privat zum Raclette. Allzu viel Zeit bleibt in dem engen Terminkalender dafür jedoch nicht. Wenn sie nicht in Berlin spielen, touren die Musiker durch Deutschland und die Welt, unter anderem regelmässig durch Japan und Taiwan, wo sie wie Superstars gefeiert werden. Über Ostern war das Ensemble für fast drei Wochen in Baden-Baden zu Gast. Auch Luzern steht in jedem Jahr auf ihrem Programm.

Zürich wollte keine Frau

Wo heute neben der Philharmonie auf dem Potsdamer Platz das Leben tobt, erstreckte sich zu Beginn von Madeleine Carruzzos Berliner Zeit noch unwirtliches Brachland. «Ich dachte, ich bin in der Wüste gelandet, als ich hier ankam», erinnert sich die Musikerin an das Jahr 1982. Die deutsche Hauptstadt war noch geteilt, nur wenige hundert Meter jenseits des Gebäudes verlief die monströse Mauer. Die von dem Stararchitekten Hans Scharoun entworfene und 1963 eröffnete Berliner Philharmonie wirkte wie ein kultureller Protestschrei in Richtung Osten.

Für Carruzzo ging mit der Zusage ein Traum in Erfüllung. Dabei wäre sie nach ihrem Studium in Detmold durchaus gerne in ihre Schweizer Heimat zurückgekehrt. Das Zürcher Kammerorchester antwortete indes auf ihre Bewerbung um die Stelle der Konzertmeisterin lapidar, dass in führender Position keine Frau gewünscht sei. Eine Entscheidung, die Madeleine Carruzzo nach all den Jahren noch sichtlich erzürnt. Sie war ambitioniert, also bewarb sie sich in Berlin bei einem der besten Orchester der Welt und überzeugte. Es war ihr erstes Vorspiel und zugleich ihr letztes, denn sie ist den Philharmonikern bis heute treu geblieben. Viele der Musiker bleiben bis ans Ende ihrer Karriere.

Zwei Jahre auf Probe

Die erste Frau sorgte damals für Schlagzeilen. Doch an diesem Label hatte Madeleine Carruzzo kein Interesse. «Ich habe mich professionell auf die Musik konzentriert und wollte nicht wegen meines Geschlechts wahrgenommen werden», sagt sie. Das habe funktioniert. Sie ging pragmatisch mit der Situation um, bald war es für die Kollegen selbstverständlich, bei Proben und in Konzerten neben einer Frau zu sitzen. 26 Jahre war Madeleine Carruzzo damals alt, ihre Kollegen im Durchschnitt 57. Fünf Jahre lang blieb sie die einzige Musikerin im Kreis der Philharmoniker. 1987 bekam sie mit der Bratschistin Gerti Rossbacher eine Kollegin.

Als Bettina SartoriusExterner Link fast 20 Jahre später ihre Zusage von den Philharmonikern erhielt, war die Geschlechterfrage geklärt, auch wenn das Orchester von einer Parität nach wie vor weit entfernt ist. Heute sind 20 der 128 Ensemblemitglieder Frauen. Nach einem damals noch üblichen Probejahr erhielt die zwischen Solothurn und Basel aufgewachsene Musikerin eine feste Stelle. Mittlerweile nimmt sich das Orchester bis zu einer Zusage sogar zwei Jahre Zeit.

Zwei Frauen blicken lächelnd in die Kamera
Madeleine Carruzzo (links) und Bettina Sartorius (rechts). Petra Krimphove

«Es kommt immer wieder vor, dass man dann feststellt, doch nicht zueinander zu passen», erläutert Bettina Sartorius die Gründe für die relativ lange Probezeit. Sie ist seit 2001 festes Mitglied. Zuvor spielte sie in der Camerata Bern. «Ich dachte, irgendwas muss noch kommen», begründet sie ihren Wechsel nach Berlin. Die Philharmoniker waren für sie von Kindesbeinen an ein Traum, der dann in Erfüllung ging.

Urlaub im Wallis muss sein

Bettina Sartorius lebt mit ihrem Mann, einem deutschen Pianisten, und ihren Zwillingen in Berlin. Manchmal überkommt sie Heimweh beim Gedanken an die Berge. Vielleicht zieht es sie irgendwann in ihrem Leben zurück in die Schweiz, sagt sie. Das steht für Madeleine Carruzzo nicht auf dem Plan. «Ich liebe Berlin», sagt sie. Doch drei bis vier Mal im Jahr ins Wallis zu fahren, das müsse sein. Hier verbringt sie auch die Sommer.

Auch im Urlaub greift sie dort fast täglich für mindestens eine Stunde zu ihrer Geige. Höchste Perfektion am Instrument erfordert eisernes Training, das die beiden nicht als lästige Pflicht empfinden. Sie lieben die Musik und ihren Beruf. «Früher konnte ich im Sommer drei bis vier Wochen aussetzen, das geht heute nicht mehr», sagt Madeleine Carruzzo.

Das Leben als Profi-Musikerin erfordert Selbstdisziplin. «Man muss es wollen und viel Kraft und Zeit investieren», sagt Bettina Sartorius. Sie übte bereits als Kind und Teenager mehrere Stunden am Tag. «Ich wollte das, es machte mir Freude.» Und dennoch: Es gibt für beide Frauen ein Leben ausserhalb der Musik. «Wir leben ja nicht wie Asketen», sagt Madeleine Carruzzo und lacht.

Für die Philharmoniker bricht in diesem Sommer eine neue Ära an. Nach 16 Jahren unter ihrem Dirigenten Simon Rattle hat sich das Orchester für einen Nachfolger entschieden. Für Madeleine Carruzzo ist es der vierte künstlerische Leiter bei den Philharmonikern. Ein neuer Dirigent, das sei wie frische Luft, sagt sie. «Ich warte mit Freude und Spannung darauf.»

Die Berliner Philharmoniker wurden 1882 gegründet und gelten als eines der besten Sinfonieorchester der Welt. Sie sind zugleich das einzige Spitzenorchester der Welt, das basisdemokratisch seinen Chefdirigenten und seine Orchestermitglieder selber auswählt. Zu seinen weltbekannten Dirigenten gehörten unter anderem Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Simon Rattle. Der dirigiert im Juni nach 16 Jahren seine letzten Konzerte als Leiter der Philharmoniker. Dann wird nach einer Übergangszeit 2019 der Russe Kirill Petrenko das Chefdirigat übernehmen. Auf ihn einigten sich die 124 festangestellten Musiker nach intensiven Diskussionen und streng geheimen Wahlen bereits im Juni 2015.

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