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«Bestimmte Filme laufen eben nur an Festivals»

Der berühmte Leopard fletscht zur 62. Ausgabe des Festivals seine Zähne.

Frédéric Maire, der scheidende Direktor des Filmfestivals Locarno, äussert sich gegenüber swissinfo.ch über die Festivalausgabe 2009, den Schweizer Film und die Endzeitstimmung unter Regisseuren.

swissinfo.ch: Das offizielle Filmfestivalplakat zeigt dieses Jahr einen Leoparden mit fletschenden Zähnen. Ist das Festival dieses Jahr besonders angriffig?

Frédéric Maire: Das Filmfestival von Locarno ist immer angriffig. Locarno kann sich nicht auf die faule Haut legen. Denn wir sind stets auf der Suche, um die beste Beute zu erwischen. Dieses «animalische Sujet» will aber auch etwas anderes zeigen: Locarno steht nicht still, sondern ist in Bewegung.

swissinfo.ch: Dieses Jahr wird viel Gewicht auf die Retrospektive Manga Impact – The World of Japanese Animation zum japanischen Animationsfilm gelegt. Warum haben Sie sich für dieses aussergwöhnliche Genre entschieden?

F.M.: Der japanische Animationsfilm der letzten 50 Jahre stellt ein tief gehendes kulturelles, gesellschaftliches und cineastisches Ereignis dar. Es ist vielleicht vergleichbar mit dem Einfluss von Mickey Mouse ab den 1920er-Jahren. In unseren Kiosken waren lange Figuren aus der Mickey-Mouse-Welt omnipräsent.

Heute sieht man in einem Kiosk überall japanische Comics. Sie durchdringen unsere Ästhetik. Kein anderes nicht spezialisiertes Filmfestival auf der Welt hat dies in seiner Tiefe ergründet.

swissinfo.ch: Ihre Aufgabe in den letzten Jahren war auch, dem Schweizer Film einen wichtigeren Stellenwert einzuräumen. Haben Sie den Eindruck, dies erreicht zu haben?

F.M.: Ganz allgemein habe ich ein gutes Gefühl. Ich arbeite gut mit den Produzenten, Regisseuren und der Schweizer Filmindustrie zusammen. Der Schweizer Film ist unter meiner künstlerischen Leitung sicherlich gut in Erscheinung getreten. Denken wir nur an «Das Fräulein», den ersten Goldenen Leoparden, der seit langem wieder einmal in die Schweiz ging.

Aber auch der so genannte kommerzielle Schweizer Film hat in Locarno ein schönes Forum gefunden. Auf der Piazza Grande hatten wir die Uraufführung von «Die Herbstzeitlosen», der im Kino zu einem Hit wurde. All dies ist indes nicht mein Verdienst, sondern jener des Schweizer Films, der sich in den letzten Jahren positiv entwickelt hat.

swissinfo.ch: In den Schweizer Kinosälen bilden die Schweizer Filme – abgesehen von erwähnten Ausnahmeerscheinungen wie den Herbstzeitlosen – aber nach wie vor eine Statistenrolle.

F.M.: Der Schweizer Film wird in unseren Kinos voraussichtlich marginal bleiben. Wir können unsere Situation nicht mit Italien oder Frankreich vergleichen. Allein in Frankreich werden 150 bis 200 Langspielfilme pro Jahr produziert. Aber, wie gesagt, es gibt eine Verbesserung des Schweizer Films. Der Trend ist positiv.

swissinfo.ch: Auch preisgekrönte Filme des Filmfestivals Locarno gelangen selten in die Kinosäle von St.Gallen, Basel und Genf. Wo klemmt es?

F.M.: Man darf nicht einzig die Situation in der Schweiz unter die Lupe nehmen. Denn es gibt Filme, die im Ausland Erfolg haben. Zum Beispiel «Death at a Funeral» von Frank Oz hat den Publikumspreis in Locarno gewonnen, aber in Schweizer Kinosälen lief er gar nicht gut. In Italien, Spanien und Frankreich lief dieser Streifen aber super.

swissinfo.ch: Bei den Wettbewerbsfilmen sieht es aber ganz schlecht aus.

F.M.: Hier handelt es sich zumeist um schwierige Werke von Nachwuchsregisseuren, die Mühe haben, in die kommerziellen Schweizer Kinos zu gelangen. Die Verleiher wollen immer weniger Risiken auf sich nehmen. Der Goldene Leopard vom letzten Jahr, der mexikanische Film «Parque vía», ist auf der ganzen Welt gezeigt worden, nur nicht in der Schweiz.

swissinfo.ch: Wo hapert es?

F.M.: Es zeichnet sich eine Entwicklung mit zwei Geschwindigkeiten ab. Bestimmte kommerzielle Produkte mit grossen Stars haben das Sagen, während andere Filme nur auf Festivals oder in Cine-Clubs gezeigt werden.

swissinfo.ch: Einige Filme thematisieren dieses Jahr Endzeitstimmung. Ist das Ende der Welt nahe?

F.M.: Der Film ist ein Spiegel seiner Zeit. Und ich habe festgestellt, dass dieses Thema zur Zeit weit verbreitet ist. Während früher diese Endzeitstimmung häufig an Kriege oder auch an den Kalten Krieg gebunden war, hängt sie heute eng mit der ökologischen Selbstzerstörungskraft der Menschheit zusammen. Der Mensch provoziert praktisch sein eigenes Ende.

swissinfo.ch: Sie stehen vor ihrer vierten und letzten Ausgabe als Direktor des Filmfestivals Locarno. Und als künftiger Leiter der Cinémathèque Suisse werden sie bald weniger im Licht der Öffentlichkeit stehen. Sind Sie sie erleichtert oder traurig, dass ihre Festivalzeit bald vorüber ist?

F.M.: Keines von beidem. Ich möchte erst dieses Festival gut zu Ende bringen. Und ich möchte meinen Job so gut wie möglich machen. Die Retrospektive, an die sich bisher noch niemand getraut hat, erfüllt mich mit Stolz. Ich glaube, es wird eine unterhaltsame Festivalausgabe.

swissinfo.ch: Was ist ihr wichtigster Wunsch für dieses Festival?

F.M.: Es gibt einen pragmatischen Wunsch: Es soll am Abend nicht regnen. Aber persönlich ist mir besonders wichtig, dass jeder Zuschauer, der nach Locarno kommt, hier etwas Besonderes entdecken kann.

Gerhard Lob, Locarno, swissinfo.ch

Das 62. Internationale Filmfestival von Locarno findet vom 5. bis 15. August statt. Es ist die grösste Kulturveranstaltung der Schweiz.

An zwei Abenden stehen auf der Piazza Grande Schweizer Filme auf dem Programm. An Tag des Schweizer Films wird zudem die Weltpremiere des Tessiner Films «La valle delle ombre» gezeigt.

Weiter sind Schweizer Regisseure aus den verschiedensten Generationen in den Wettbewerben des Festivals präsent: So Complices von Frédéric Mermoud, The Marsdreamers von Richard Dindo und Ivul von Andrew Kötting.

Als Weltpremieren gelangen Daniel Schweizers Dirty Paradise und Wolfgang Panzers Baba’s Song zur Aufführung.

Im Internationalen Wettbewerb laufen 18 Filme aus 15 Ländern, darunter 14 Weltpremieren, 7 Debütfilme und 4 internationale Premieren. Hauptpreis ist der Goldene Leopard.

Vier Jahre lang hat Frédéric Maire (48) das Filmfestival von Locarno als künstlerischer Direktor geleitet. Er wird am 1. November 2009 die Leitung der Cinematheque Suisse übernehmen.

Der Franzose Olivier Père wird als Nachfolger von Maire neuer Direktor des Filmfestivals von Locarno. Père war Leiter der Quinzaine des Realisateurs des Filmfestivals von Cannes.

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