Bignardis Abschiedsvorstellung
Die 58. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals Locarno ist die letzte unter der künstlerischen Leitung von Irene Bignardi.
Die aufregenden Festivaltage stehen noch bevor. Doch der angekündigte Rücktritt erlaubt bereits eine erste Bilanz. swissinfo traf die scheidende Festivaldirektorin.
Am Sitz des Filmfestivals herrscht grosses Kommen und Gehen. Präsident Marco Solari ist da, eine Reihe von Sekretärinnen und die engsten Mitarbeiter. Irene Bignardi empfängt uns in ihrem Büro mit einem herzlichen Lächeln, auch wenn in ihrer Agenda ein Termin den anderen jagt.
swissinfo: Welche Gründe gaben den Ausschlag, den Vertrag für Locarno nicht mehr zu verlängern?
Irene Bignardi: Ich wollte meinem Leben einfach eine neue Richtung geben. Fünf Jahre in Locarno stellen einen wichtigen Zyklus dar. Bedenken Sie, dass am Filmfestival Venedig das Mandat des Direktors jeweils auf vier Jahre beschränkt ist.
Es waren sehr schöne Jahre. Und ich denke, dass ich eine Spur hinterlasse. Es gibt keinerlei Grund für mich, unzufrieden zu sein. Das Leben einer Festivaldirektorin ist einfach sehr hart. Und jetzt möchte ich mir mein Leben zurückholen.
swissinfo: Was nehmen Sie von dieser Erfahrung in Locarno mit nach Hause?
I.B.: Zweifellos bleibt in meiner Erinnerung diese gemeinsame Leidenschaft fürs Kino in unserem Leitungsteam, das ja fast ausschliesslich aus Frauen bestand. Es gab nicht eigentlich eine Direktorin oder eine Vizedirektorin. Wir haben alle gemeinsam für ein gemeinsames Projekt gearbeitet.
Und ich bin überzeugt, dass wir Einiges erreicht haben. Wir haben Real-Kino nach Locarno gebracht. Ich denke an die Videos vom G8-Gipfel in Genua. Oder an Filmproduktionen aus Afghanistan, die wir bereits drei Monate nach Kriegsende nach Locarno brachten.
In Locarno haben wir den indischen Film lanciert, der jetzt in Mode ist. Im Jahr 2000 zeigten wir auf der Piazza Grande den Bollywood-Streifen «Lagaan». Es war ein Riesenerfolg. Wir haben aber auch andere Dinge ausgegraben, die von anderen Filmfestivals nachgemacht wurden.
swissinfo: Welche Neuerung ist Ihnen die wichtigste?
Das ist schwierig zu sagen. Aber die Erfahrung mit «Lagaan» war schon besonders wichtig. Wir sind das Risiko eingegangen, auf der Piazza einen Film von 3 Stunden und 40 Minuten Länge zu zeigen. Das war ein gefährliches Unterfangen. Aber wir haben gewonnen, wie die Publikumsreaktionen zeigten.
Ich werde auch andere, sehr schöne Erfahrungen von Locarno mit nach Hause nehmen. Beispielsweise die Treffen mit den Schriftstellern 2001, die Begegnung mit der Musik von Ennio Morricone oder etliche andere, manchmal minutiöse Ereignisse.
Das Publikum von Locarno ist ein besonderes. Es ist nicht auf der Suche nach Stars und Glamour, sondern nach allem, was irgendwie mit Filmen zusammenhängt. Aus Locarno ist eine Art Biennale d’Arte (Kunstfestival) geworden. Wir haben die Grenzen eines traditionellen Filmfestivals bewusst überschritten.
Die Sektion «In Progress» haben wir auf andere Kunstformen ausweitet, die mit dem Film in Verbindung stehen. Wir haben Persönlichkeiten nach Locarno gebracht, die eine Verbindung zum Film haben, auch wenn sie nicht der Kinowelt entstammen.
Auf diese Dinge bin ich stolz. Und ich glaube, sie haben in Locarno eine Spur hinterlassen.
swissinfo: Wie schwierig ist es heute, ein Festival wie Locarno zu leiten, insbesondere für eine Frau?
I.B. Als Frau ist es schwierig, nicht am Basislager zu leben, das in meinem Fall Rom ist. Dort ist meine Familie, dort sind meine Bücher, dort bezahle ich meine Rechnungen. Wenn ich eine «Ehefrau» gehabt hätte, wäre es vielleicht für mich als «Direktor» leichter gewesen.
Das Leben einer Festivaldirektorin ist schwierig. Natürlich stimmt es, dass die finanziellen Mittel vorhanden sind, aber im Vergleich zur internationalen Konkurrenz sind sie eben doch begrenzt.
Das Budget der Filmfestspiele in Berlin ist doppelt so hoch wie das unserige. Und ganz abgesehen von den Finanzen ist Berlin eine Plattform für den Glamour. Es besitzt diesen Mehrwert an Sichtbarkeit.
Locarno hat zudem einige zusätzliche Probleme. Das beginnt mit den Festivaldaten im August. Da sind viele Leute in den Ferien und in dieser Zeit werden viele Filme gedreht. Locarno ist zudem Teil eines kleinen, viersprachigen Landes. Als Folge ist das Gewicht in Verhandlungen mit den grossen internationalen Filmverleihern eher bescheiden.
Dazu kommt eine gewisse innere Zerbrechlichkeit: Der magische Moment für die Abendaufführungen auf der Piazza kann an Wetterkapriolen scheitern. Schliesslich haben wir noch das Problem mit den Unterkünften, da viele Hotels geschlossen haben oder schliessen werden.
Das Leben einer Festivaldirektorin ist sowieso schon kompliziert, aber in Locarno ist es noch ein bisschen komplizierter als anderswo.
swissinfo: Was braucht Locarno in Zukunft, abgesehen von der Liebe zum Film?
I.B. Locarno muss die Liebe der Leute zum Festival spüren. Es ist sehr wichtig, dass Sponsoren, Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens das Potential von Locarno erfassen. Locarno ist sicherlich ein hübsches Städtchen am Lago Maggiore. Aber es wäre wohl kaum auf einer Weltkarte ohne sein Filmfestival.
Von Locarno wird das Bild einer internationalen und künstlerisch unabhängigen Schweiz in die Welt getragen. Und die Schweiz kann sich auch mit gutem eigenen Filmschaffen präsentieren – so wie in diesem Jahr. Das Festival hat zudem eine wichtigen wirtschaftliche Bedeutung für die Region.
swissinfo: In wenigen Tagen beginnt das letzte Filmfestival unter Ihrer Leitung. Mit welchem Geist gehen sie Ihre Abschiedsvorstellung an?
I.B.: Es ist der Geist von immer. Dieses Jahr mischt sich ein wenig Befreiung dazu. Wohlverstanden: Ich befreie mich nicht von Locarno und seinem Festival, aber von den Anstrengungen der Organisation.
swissinfo, Françoise Gehring, Locarno
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
58. Filmfestival Locarno: 3. bis 13. August 2005
15 Filme im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden
14 Filme auf der Piazza Grande
Der Bund garantiert für die kommenden drei Jahre 3,6 Mio Franken an Subventionen fürs Festival.
Im Jahr 2004 berichteten weltweit 900 Zeitungen in 39 Ländern über das Filmfestival Locarno.
Irene Bignardi wurde am 10.August 1953 in Mantua geboren und wuchs in Mailand auf. Sie studierte Literaturwissenschaften an der staatlichen Universität in Mailand und Kommunikation an der Stanford University (USA).
Sie arbeitete bei Olivetti und bei der RAI, bevor sie als Filmkritikerin zum Magazin «L’espresso» stiess und später zur neu gegründeten Tageszeitung «La Repubblica» wechselte.
Mit der Ausstrahlung ihres Lieblingsfilms «Nashville» von Robert Altman wird sie sich auf der Piazza Grande verabschieden. Ihre Lieblingsregisseure sind Federico Fellini und Billy Wilder.
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