Der Fotograf der Zaren
Wie der mittlerweile in Vergessenheit geratene Tessiner Fotopionier Giovanni (Ivan) Bianchi (1811–1893) als "König der Interieurs" bei den Aristokraten im russischen Sankt Petersburg ein und aus ging.
Bei der Renovierung der Kantonsbibliothek Lugano im Dezember 2003 sind 103 Fotografien aus dem 19. Jahrhundert wieder aufgetaucht. Auf den nach fast 150 Jahren wiederentdeckten und halbvergessenen Bildern sind Stadtmotive von Moskau und Sankt PetersburgExterner Link zu sehen. Sie sind umso bemerkenswerter, weil sie mehr als ein Jahr vor der vermeintlich ersten Aufnahme von Sankt Petersburg vom 31. Dezember 1853 durch Graf Nostitz entstanden sind.
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Der Urheber der Fotografien ist der Tessiner Giovanni (Ivan) Bianchi. 1811 in Varese geboren verlässt er im Alter von zehn Jahren sein Heimatdorf Arogno im Tessin, um mit seinem Onkel nach Russland zu reisen, einem Professor der Dekorationsmalerei an der Architekturhochschule in Moskau. Im Jahr 1839 kehrt der junge Bianchi, mittlerweile Student an der Moskauer Hochschule für Malerei und Bildhauerei, Russland den Rücken und reist nach Paris, um seine Kenntnisse zu vertiefen. Dort erfährt er zweifellos von den Studien Louis Daguerres über die «Fixierung von Bildern, die sich im Brennpunkt einer Camera obscura formen».
1846 kehrt Ivan Bianchi nach Moskau zurück, wo seine Brüder Giuseppe (Josip) und Cesare als Architekten und Bildhauer arbeiten. Von 1846 bis 1852 lebt er in Russland und Paris, wo man die ersten Zeugnisse seiner Lichtbildkunst findet. Er beginnt mit grossen Aussenaufnahmen. Die politischen Ereignisse wecken sein Interesse: Am 10. Mai 1852 fotografiert er die grosse Militärzeremonie auf dem Champs de Mars in Paris für die Verteilung der «Fahnenadler» von Louis-Napoleon an 60’000 Soldaten, die stellvertretend für das ganze Armeekorps stehen.
Im selben Jahr eröffnet er in Sankt Petersburg ein eigenes Atelier, wo er mit seiner Porträtfotografie bei den Familien des Adels und des gehobenen Bürgertums grossen Erfolg geniesst. Der Konkurrenzkampf unter den Fotografen ist jedoch hart. Deshalb spezialisiert sich Ivan Bianchi auf Aussenansichten, wo er Pionierarbeit leistet und äusserst erfolgreich ist. Seine Bilder sind die ersten Beispiele für Fotoreportagen aus der Stadt. Am 27. Februar 1855 hält er als Einziger den Trauerzug für Nikolaus I. fest.
Derselbe Zar hat ihm 1852 bei der Einweihung der «Neuen Eremitage» den prestigeträchtigen Auftrag erteilt, ein Fotoalbum mit Abzügen der in den Sälen des neuen Museums ausgestellten Aquarelle anzufertigen. Durch diese Arbeit öffnen sich ihm die Türen zu den Häusern der einflussreichsten Aristokraten der Hauptstadt. Als «König der Interieurs» geniesst Bianchi das Vertrauen der Adelsfamilien. Er wird sogar damit betraut, die Gemächer von Albert Eduard, Sohn von Königin Viktoria und «Prince of Wales», zu fotografieren.
Dieser Erfolg ermöglicht es ihm 1865, sich ein Atelier am berühmten Newski-Prospekt in Sankt Petersburg einzurichten, einer der berühmtesten Strassen Russlands. Im Jahr 1884 entschliesst sich der 73-jährige Giovanni Bianchi, ins Tessin zurückzukehren. Er schreibt an Graf Paul Stroganoff, einen seiner namhaftesten Kunden: «Nun, da ich Russland verlasse, wahrscheinlich für immer, fühle ich den starken Drang, meinen Wohltätern meine Dankbarkeit auszudrücken, da sie – wie Eure Exzellenz – mir viele Male ihr Vertrauen geschenkt haben.»
Im Tessin bleibt Giovanni Bianchi leider unbeachtet. Er stirbt 1893 an Heiligabend im Alter von 82 Jahren in Lugano, ledig und wohlhabend. Seine Aufnahmen verschwinden mit ihm und warten in den Archiven auf ihre Wiederentdeckung Anfang des 21. Jahrhunderts, zuerst in der Schweiz und schliesslich auch in Russland.
Die Geschichte einer Region oder eines Landes ist die Geschichte der Menschen, die dort leben oder lebten. Diese Serie stellt 50 Persönlichkeiten vor, die den Lauf der Schweizer Geschichte geprägt haben. Einige sind besser bekannt, einige beinahe vergessen. Die Erzählungen stammen aus dem Buch «Quel est le salaud qui m’a poussé? Cent figures de l’histoire Suisse»Externer Link, herausgegeben 2016 von Frédéric Rossi und Christophe Vuilleumier im Verlag inFolio.
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