Der verschollene Film des Sergei Michailowitsch Eisenstein
Vor 90 Jahren drehte der russische Filmpionier Sergei Eisenstein auf dem Schweizer Schloss von La Sarraz mit Koryphäen der Avantgarde einen Film. Doch das Filmmaterial ist bis heute verschollen.
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Der russische Filmemacher Sergei Michailowitsch Eisenstein ist für seine Spielfilme wie etwa «Panzerkreuzer Potemkin» (1925) oder «Iwan der Schreckliche» (1945) bekannt. Eisenstein erhielt 1929 die Erlaubnis der bolschewistischen Regierung, nach Westeuropa zu reisen, um die Neuheiten der Filmwelt zu erkunden.
Als er mit seinem Kameramann Eduard Tissé und seinem Assistenten Grigori Alexandrow nach Zürich kam, wurde er von Hélène de Mandrot, einer angesagten Kunstmäzenin der anrüchigen Künstlerwelt, auf ihr Anwesen – das Schloss von La Sarraz im Kanton Waadt – eingeladen.
Die Dame stammte aus der grossbürgerlichen Genfer Familie Revilliod-de Muralt und machte als Organisatorin der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM), an denen insbesondere Le Corbusier teilnahm, von sich reden. Jedes Jahr organisierte sie künstlerische und intellektuelle Begegnungen.
1929 waren diese dem unabhängigen Filmschaffen gewidmet. Der erste Congrès International de Cinéma Independant (internationaler Kongress des unabhängigen Filmschaffens) fand folglich im Waadtländer Hinterland statt. Eisenstein interessierte sich für ein Treffen mit anderen Filmregisseuren und nahm die Einladung an. So verbrachte er vom 3. bis 7. September einige Tage mit Filmemachern aus verschiedenen Ländern auf dem mittelalterlichen Anwesen.
Während dieser Zeit, die grösstenteils der Kunst des Essen gewidmet war, entwickelten die Künstler ein Projekt zum Dank an ihre Gastgeberin und entschieden sich für einen Filmdreh im Schloss. Dazu wollten sie die eigentümliche Szenerie des Gebäudes nutzen und holten sogar den alten, zusammengewürfelten Plunder hervor, der vergessen auf dem Dachboden des Schlosses lag.
Natürlich brauchte das Werk einen Namen: Es wurde «Sturm über La Sarraz» getauft, eine ironische Allegorie des Kampfes zwischen unabhängigem und kommerziellem Kino, und war eine Anspielung auf die Gesprächsthemen der Gesellschaft. Die Aufgabe, dieses filmische Pamphlet umzusetzen, wurde Eisenstein übertragen.
Zuerst verteilte er die Rollen: Der ungarische Autor Béla Balázs sollte den Armeekommandanten des kommerziellen Kinos darstellen, die Romanautorin und Historikerin Janine Bouissounouse übernahm die Rolle des vergänglichen Geistes des freien Kinos, der französische Schriftsteller Léon Moussinac verkörperte D’Artagnan und Eisenstein selbst spielte den Armeekommandanten des unabhängigen Kinos.
Aber auch die anderen Gäste von Madame de Mandrot dürfen nicht vergessen werden, denn Jack Isaacs, Hans Richter, Walter Ruttmann, Fritz Rosenfeld, Mannus Franken und Moichiro Tsuchiya hatten ebenfalls ihren Auftritt.
Als Zeitzeuge dieser Tage fotografierte Pierre Zénobel die kleine Gruppe und die geschminkten Schauspieler und belegt so mit seinen Bildern, die bei der Cinémathèque Suisse hinterlegt sind, dass der Film tatsächlich gedreht worden ist.
In der Truppe befand sich ein Japaner, Hiroshi Higo, der ebenfalls Filmemacher sowie Kommunist war und ebenfalls am Projekt mitwirken sollte. Er war es, der aus unbekannten Gründen den Film am Ende des Aufenthaltes mitnahm und ihn nach Tokio brachte. Hiroshi Higo war dafür bekannt, dass er vor dem Krieg mehrere Avantgardefilme in Japan vorgestellt hatte, und führte seiner Partei den Film unter dem neuen Namen «Kokusai Dokoritsu Eiga Kaigi» vor.
Tokio im Jahr 1930: Wir befinden uns in der Taishō-Zeit, das russische Vorbild hat sich verbreitet und seit rund zehn Jahren gibt es echte politische Parteien in Japan. 1922 entstand die japanische kommunistische Partei Nihon Kyōsantō. 1926 wurden mit der Unterstützung der Regierung zwei neue, gemässigtere Arbeiterparteien gegründet: die Rōdōnōmintō (Arbeiter- und Bauernpartei) und die Nihon Rōnōtō (japanische Arbeiter- und Bauernpartei).
Gleichzeitig wuchsen faschistische Bewegungen und schwollen an wie boshafte Pestbeulen, darunter die 1924 gegründete Kokuhonsha, zu der viele Militärs, aber auch Professoren und Beamte gehörten. Angesichts dieser beunruhigenden Entwicklung führte die Regierung ein repressives Organ ein, eine Art Gestapo: die spezielle höhere Polizei Tokkō, die sofort mit der Verfolgung der Kommunisten und aktiven Gewerkschaften begann.
Vor diesem Hintergrund wurde der von Eisenstein im Kanton Waadt gedrehte Film am 13. Juni 1930 anlässlich einer Soiree des proletarischen japanischen Filmverbands den Mitgliedern der kommunistischen Partei vorgeführt – nachdem die Polizei spezielle Sicherheitsmassnahmen getroffen hatte.
Das Werk schaffte es allerdings nicht über die Zensurstelle hinaus. Es wurde unter der Nummer E 7612 auf die japanische Zensurliste gesetzt – der Beweis, dass der Film wenigstens eine Zeit lang weiterbestand. Denn auch wenn das Nationalmuseum für moderne Kunst in Tokio diese Inventarnummer noch immer aufbewahrt, ist der Film seit Jahrzehnten verschollen.
Sämtliche Recherchen von Spezialisten, vor allem diejenigen des Delegierten für sowjetische Filmkritik, Kazuo Yamada, der von Gosfilmofond – der russischen Behörde für die zentralen Archive russischer Filme – beauftragt worden war, haben bis heute nichts ergeben.
Darum glauben heute einige trotz der in der Schweiz archivierten fotografischen Nachweise, der Film habe nie existiert. Auch nicht bekannt ist, ob Eisenstein nach seiner Rückkehr in die UdSSR je über den Film sprach oder lieber verheimlichte, dass er zu Besuch bei einer Schweizer Aristokratin gewesen war.
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