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Stresstest für den «Swiss way»

Swissinfo Redaktion

Die britische Abstimmung über den EU-Austritt  ist eine Chance für die Schweiz, in der Debatte um die eigene Rolle in Europa wieder an Flughöhe zu gewinnen.

Wer intensiv nach Gemeinsamkeiten zwischen der Schweiz und Grossbritannien sucht, wird irgendwann fündig, spätestens bei Winston Churchill oder den Erstbesteigern unserer Berge. Im grossen Ganzen jedoch sind Briten und Eidgenossen, trotz ihrer «splendid isolation», ziemlich verschieden. Aber etwas eint die zwei Nationen: die tiefe Skepsis gegenüber der europäischen Zentrale in Brüssel. Gemäss der jüngsten ETH-Umfrage befürworten noch 16 Prozent der Bevölkerung den Beitritt zur Europäischen Union. Das ist der tiefste Wert seit Beginn der Messreihe vor zwei Jahrzehnten.

Nun könnte man vermuten, die Schweizer fieberten der Abstimmung am 23. Juni entgegen und hofften inbrünstig, dass sich die Briten für einen «way of life» ausserhalb der EU entscheiden. Von einer Brexit-Euphorie kann jedoch keine Rede sein. Selbst jene Parteien und Organisationen, welche die Integration der Schweiz in Europa zurückbuchstabieren möchten, lässt ein möglicher Alleingang des Vereinigten Königreichs einigermassen kalt. Im Parlament sind zum Thema Brexit in letzter Zeit zwei Vorstösse eingegangen – aber 67 zum Abschuss von Wölfen. Begrüsst würde eine Sezession Londons allenfalls von jenen Kräften, die sich ganz vom EU-Binnenmarkt lösen wollen. Sie glauben wie Ukip-Chef Nigel Farage, ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU abschliessen zu können, das die Interessen der Unternehmen und Bürger so gut wahrt wie der «single market».

Für den sogenannten «Swiss way» können sich die Engländer aber auch nicht richtig erwärmen. Während der Bilateralismus in der Schweiz grundsätzlich hoch im Kurs ist (wäre da nur nicht dieses Problem mit der Personenfreizügigkeit . . .), sind im Vereinigten Königreich die Sympathien für dieses Integrationsmodell im Verlauf des Abstimmungskampfs immer mehr geschwunden. Das Aushandeln von 120 bilateralen Verträgen, die fehlenden Mitbestimmungsrechte bei gleichzeitiger Verpflichtung zur Rechtsübernahme erscheinen bei näherer Betrachtung dann doch nicht der richtige Weg zu sein für das einst mächtigste Land der Welt. Nicht entgangen ist den Briten auch die harsche Reaktion Brüssels auf den Versuch, die Personenfreizügigkeit einseitig mit einer Verfassungsabstimmung auszuhebeln.

Auch Ukip-Leader Farage ist kein Anhänger des «Swiss way» mehr. Noch vor zwei Jahren pries er in Winterthur als Gastredner der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) das Schweizer Integrationsmodell als Leuchtturm Europas. Heute betont Farage bei jeder Gelegenheit, dass Grossbritannien einen anderen Weg gehen müsse als die Schweiz – aber auch nicht jenen der EWR-Staaten Norwegen, Liechtenstein und Island. Die Hardliner unter den Brexiteers ziehen die ökonomische Desintegration dem formalen Souveränitätsverzicht vor, den jede Form des Andockens an den Binnenmarkt mit sich bringt.

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Im dritten Kreis

Theoretisch gäbe es nach dem Brexit eine Alternative, die aus schweizerischer wie aus britischer Sicht akzeptabel sein könnte: die Fortentwicklung des EWR mit Mitentscheidungsrechten für die Efta-Staaten überall dort, wo sie sich zur Übernahme des Acquis communautaire verpflichten. Das wäre ein dritter Kreis europäischer Länder, nach den Euro-Ländern und den übrigen EU-Staaten. Die Aussen- und Sicherheitspolitik liesse sich parallel mit einer anderen Polit-Geometrie organisieren. Dazu müsste die Union aber ein Stück weit ihre eigene Geschichte rückgängig machen und auf den historischen Entscheid von 1990 zurückkommen, als sie den Efta-Staaten im EWR die Mitbestimmungsrechte verweigerte. Denkbar ist ein solches Szenario nur, wenn der EU die Felle davonschwimmen und eine Absetzungsbewegung mit Grossbritannien an der Spitze in Gang kommt. Das könnte durchaus eine Option für die Schweiz sein. Das Abwägen zwischen neuen Mitgestaltungsmöglichkeiten und einem Verzicht auf (Schein-)Souveränität bliebe ihr aber nicht erspart.

So weit die Theorie. In der Praxis wäre die Schweiz unmittelbar nach einem Brexit mit einem ungemütlichen Szenario konfrontiert. Folgende Etappen sind vorstellbar: Alles beginnt mit einem brutalen Wechselkurs-Schock – über weitere wirtschaftliche Folgen sei hier nicht spekuliert. Die EU sistiert die Gespräche über eine Zuwanderungs-Schutzklausel. Der Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens – die Voraussetzung für neue bilaterale Verträge – rückt in weite Ferne. Beide Themen werden im Zentrum der Austrittsverhandlungen Grossbritanniens stehen: Wie dockt ein Drittstaat, der weder in der EU noch im real existierenden EWR sein will, an die EU und ihren Binnenmarkt an?

Der Schweizer Fahrplan, wonach am 9. Februar 2017 um Mitternacht wieder Kontingente für EU- und Efta-Bürger einzuführen sind, hat dabei weder auf den Britischen Inseln noch auf dem Kontinent Priorität. Ein pragmatischer Ausweg könnte sein, bis Ende Jahr zunächst ein Reformpaket mit internen Begleitmassnahmen zu verabschieden. Der Normenkonflikt zwischen Bundesverfassung und Freizügigkeitsabkommen liesse sich vorübergehend mit einer Verordnung oder einem Bundesbeschluss aufheben, dauerhaft aber nur mit einer Verfassungsänderung. Die denkbar dümmste Reaktion wäre, mitten in den Post-Brexit-Wirren das Freizügigkeitsabkommen zu kündigen und die bilateralen Verträge zu riskieren.

Der Druck bleibt

Bleiben die Briten in der Europäischen Union, wird die Umsetzung des Brexit-Deals viel Zeit beanspruchen. Die von Premier David Cameron ausgehandelte Grundsatzvereinbarung lässt wenig Spielraum für eine direkte Beschränkung der Zuwanderung, wohl aber für indirekte oder autonome Massnahmen, von der Einschränkung von Sozialleistungen bis zur Integration von Flüchtlingen. Gleichzeitig bringen die in der Verfassung verankerten Fristen die Unterhändler in eine unmögliche Situation: Sie sollten noch im Juli ein Resultat vorweisen können, damit das Parlament die Vorlage bis Ende Jahr verabschieden kann.

Die Diplomatie steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Der Zuwanderungsartikel in der Bundesverfassung widerspricht der Personenfreizügigkeit, und diese steht aus Brüsseler Sicht nicht zur Disposition. Wenn der bilaterale Weg weiterverfolgt werden soll, bleiben in der zweiten Jahreshälfte zwei Optionen: eine Änderung der Verfassung oder eine sehr grosszügige Auslegung derselben. In beiden Fällen würde dem Ziel einer besseren Steuerung der Einwanderung mit einer Kombination von autonomen und mit der EU vereinbarten Begleitmassnahmen Rechnung getragen.

Bevor man sich auf eine Verfassungsabstimmung (mit Ständemehr) oder aber für eine Umsetzung auf Gesetzesebene (mit Volksmehr) festlegt, sind die bevorstehenden Verhandlungen mit der EU abzuwarten. Je mehr Substanz, desto eher ist eine flexiblere Auslegung des Zuwanderungsartikels in der Verfassung möglich. Umgekehrt wäre es töricht, einer Verfassungsänderung aus Angst vor den Ständen auszuweichen. So funktioniert die direkte Demokratie nun einmal nicht.

Die Brexit-Abstimmung ist eine Chance für die Schweiz, sich aus der starren Fixierung auf selbst verantwortete Normenkonflikte zu lösen und sich wie die Briten auf die Grundsatzfrage zu konzentrieren: Mit welchem Integrationsmodell fährt die Schweiz am besten? Unpräzis und widersprüchlich formulierte Verfassungsartikel dürfen nicht die einzigen Orientierungspunkte sein. Die eigenen Verhandlungsziele müssen regelmässig mit der Realität auf dem Kontinent abgeglichen werden. Der nächste Termin ist der 23. Juni.

Was auch immer die Briten entscheiden: Der «Swiss way» bleibt unter Druck.

(Dieser Text ist am 13. 06. 2016 in der © NZZ erschienen.)

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin. Sie müssen sich nicht mit jenen von swissinfo.ch decken.

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