Bruno Ganz: Ein Einzelgänger mit Grandezza
Bruno Ganz wurde am Samstag von der European Film Academy in Talinn für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ein Gespräch mit dem Regisseur Fredi M. Murer, der im Film "Vitus" mit dem grossen Schweizer Schauspieler zusammenarbeitete.
swissinfo.ch: Was macht Bruno Ganz als Schauspieler aus?
Fredi M. Murer: Letztlich bleibt das sein Geheimnis, das vermutlich nicht mal er schlüssig erklären könnte. Ich kann nur Mutmassungen anstellen.
Sicher kommen da einige Dinge zusammen: Begabung, Instinkt, Erfahrung, Können, Wissen, Intuition, Ausstrahlung, Charisma. Natürlich gehört auch eine Brise Eitelkeit und Narzissmus dazu sowie die Fähigkeit, sein Ich in der Garderobe zu deponieren.
Aber das gewisse Etwas muss man in den Genen haben. Sein Vater stammt von einem kleinen Weiler im bäuerlichen Zürcher Unterland und seine Mutter von einem Bauernhof in Norditalien. Er trägt also schon mal zwei Kulturen und vielleicht auch zwei Seelen mit sich herum.
Privat erscheint er mir oft wie ein scheuer, introvertierter Mann vom Land, und auf der Bühne kommt plötzlich eine Grandezza, eine gewisse Italianità zum Vorschein. Sogar seine Stimme bekommt manchmal einen südländischen Gusto. Fellini hat einmal gesagt, dass in jedem Italiener ein Schauspieler stecke.
Bruno Ganz ist ja im Theater gross geworden. Von 1970 bis 1975 spielte er im Ensemble der Berliner Schaubühne, das vom deutschen Regisseur Peter Stein geleitet wurde. Ganz hat diese Theatertradition, die sich intensiv und akribisch mit dem Stoff und den Hintergründen befasste, in die Filmarbeit hinüber genommen. Er hat relativ spät angefangen auch Filme zu machen. Stein hat ihm immer davon abgeraten, sicher auch ein wenig aus Eifersucht.
Die Arbeitsweise bei Film und Theater ist für Schauspieler fast so verschieden wie für Läufer Hundertmetersprint und Marathon, die wenigsten Läufer sind auf beiden Distanzen gleich gut.
Ganz ist zwar ein Theater-Vollprofi, aber weiss natürlich sehr genau, dass Film ein völlig anders Medium ist. Der Gesichtsausdruck bei einer Nahaufnahme muss mindestens zwanzig Mal kleiner sein als auf einer Bühne. Vereinfacht gesagt: Auf der Bühne spielt man Kaffee trinken, beim Film trinkt man Kaffee.
Es ist interessant, dass Ganz trotz seiner zahlreichen Filmrollen kein «Routinier» geworden ist, sondern neugierig geblieben und irgendwie immer noch am Lernen. Das alles macht ihn zu einem grossen Schauspieler.
swissinfo.ch: Wie hat sich diese Qualität von Bruno Ganz bei den Dreharbeiten zum Film «Vitus» geäussert?
F.M.M.: Ich wusste schon beim Drehbuchschreiben, dass Bruno Ganz die Rolle des Grossvaters spielen wird – ich habe ihm die Rolle sozusagen auf den Leib geschrieben. Die Figur des Grossvaters ist eine Mischung aus Erinnerungen an meinen Vater und meinen Lieblingsautor Robert Walser.
Nach der Lektüre des Drehbuchs wollte Bruno ganz genau wissen, wo mein Vater und wo Walser mir Modell standen und hinterfragte jede Szene, bis er alles wusste, was er für die Gestaltung seiner Grossvaterfigur wissen wollte.
Im Film «Vitus» gibt es eine Szene, in welcher der Grossvater seinen Hut über den Bach wirft, um seinem Enkel gleichnishaft zu zeigen, dass man manchmal etwas, das man liebt, opfern muss, um das gesteckte Ziel zu erreichen.
Meine Tochter, die für die Kostüme verantwortlich war, erzählte mir, dass er dafür etwa 40 Hüte ausprobiert habe, bis er das Gefühl hatte, dieser sitze auf seinem Kopf wie ein Körperteil. Er habe einen aufgesetzt, sei mit ihm spazieren gegangen und habe den nächsten geholt. Bruno Ganz hat sich äusserst intensiv mit dieser Figur befasst.
Bevor er die Rolle des Grossvaters in «Vitus» übernahm, hat er im Film «Der Untergang» von Oliver Hirschbiegel Adolf Hitler gespielt. Ich habe nur am Rand mitbekommen, wie intensiv und akribisch er sich auf diese Rolle vorbereitet hat.
Wochenlang hat er Filme angeschaut, um Hitlers Körpersprache und Mimik zu studieren und zahllose Tonbänder angehört, um dessen Sprechweise und Stimme zu internalisieren. Er sagte mir, dass er Monate gebraucht habe, bis er diese Ekel wieder los gewesen sei.
swissinfo.ch: Der Film «Vitus» war ein grosser Erfolg. Wie war die Zusammenarbeit mit Bruno Ganz?
F.M.M.: Sehr, sehr gut, produktiv und freundschaftlich. Ganz ist ein äusserst kooperativer, wunderbarer und genauer Schauspieler, der weiss, was er will und der auf einem eingeht.
Ganz ist eher der Einzelgänger und nimmt selten an Equipenanlässen teil. Auf dem Filmset war er immer sehr präzise und konzentriert, zog sich in den Drehpausen immer in seinen Aufenthaltsraum zurück. Ich glaube, wenn er mal in seiner Figur ist, will er nicht als Bruno Ganz angesprochen werden.
Ganz war für die beiden Kinder in «Vitus», mit denen er zusammenspielte, ein wunderbarer Kollege. Er war für sie irgendwie auch ausserhalb der Dreharbeiten ein bisschen wie ein Grossvater.
Oft hat er die Kinder beim Drehen in ein Gespräche verwickelt und ging dann fugenlos in den Filmdialog über. Sie realisierten jeweils kaum, dass bereits gefilmt wurde.
swissinfo.ch: Die Liste der Theaterstücke und Filme, in denen Bruno Ganz mitspielte, ist lang. Von welcher Rolle waren Sie am meisten beeindruckt, abgesehen von jener des Grossvaters in «Vitus»?
F.M.M.: Seine Rollen in «Der amerikanische Freund» oder «Der Himmel über Berlin» von Wim Wenders habe ich noch sehr gut in Erinnerung.
Auch in Kurt Gloors «Der Erfinder» fand ich Bruno Ganz aussergewöhnlich gut.
swissinfo.ch: Bruno Ganz hat ja praktisch seine ganze Theaterkarriere in Deutschland gemacht, und er hat nur in wenigen Schweizer Filmen mitgespielt. Welchen Bezug hat er zur Schweiz?
F.M.M.: Er ist sehr wählerisch in der Auswahl seiner Rollen. Ich kann deshalb nicht sagen, ob er so wenig Schweizer Filme gemacht hat, weil er wenig Angebote erhielt oder weil er viele ablehnte.
Denn Bruno Ganz ist ein Schauspieler, der mitdenkt und halt oft unbequeme Fragen stellt und nicht einfach macht, was der Regisseur sagt. Darum hat er für gewisse Leute den Ruf, schwierig zu sein. Das ist bei ihm eine Art Gewohnheitsreflex aus der Mitbestimmungstradition von Peter Stein.
Ziemlich gekränkt hat ihn, dass sein Gastspiel mit Peter Stein im Schauspielhaus Zürich nach nur eineinhalb Jahren wegen politischen Querelen endete und seine Heimatstadt ihn und das Ensemble in die Wüste schickte.
Der Kunstpreis der Stadt Zürich, mit dem Bruno Ganz 2006 ausgezeichnet wurde, war eine Art Versöhnungsakt.
swissinfo.ch: Bruno Ganz feiert nächstes Jahr seinen 70. Geburtstag. Er scheint als Schauspieler praktisch alles erreicht zu haben. Trotzdem macht er unerschöpflich weiter. Ist es auch eine Art Flucht vor dem Alter?
F.M.M.: Ich glaube, dass Schauspieler und Künstler generell unpensionierbar sind. Zudem kommen in Filmen und Theaterstücken immer wieder ältere und alte Menschen vor, die ja von jemandem gespielt werden müssen.
Für viele Schauspieler ist das Spielen von Rollen ein wichtiger Teil ihres Lebens, vielleicht sogar der Interessantere. Ich habe auch den Eindruck, dass Bruno Ganz es sehr schätzt und liebt, so gefragt zu sein. Ich übrigens auch, ohne Schauspieler zu sein.
Bruno Ganz wurde 1941 in Zürich als Sohn eines Schweizers und einer Italienerin geboren.
1970 schloss er sich dem Ensemble der Berliner Schaubühne an und arbeitet mit bedeutenden Theaterregisseuren wie Peter Stein, Peter Zadek, Claus Peymann und Klaus Michael Grüber.
Mitte der 1970er-Jahre beginnt die Filmkarriere des Bühnenkünstlers. Bruno Ganz arbeitete mit zahlreichen Grössen des deutschen Autorenfilms zusammen: von Werner Herzog(NOSFERATU – PHANTOM DER NACHT, 1979) bis Volker Schlöndorff (DIE FÄLSCHUNG, 1981) und Wim Wenders (DER AMERIKANISCHE FREUND, 1977; DER HIMMEL ÜBER BERLIN, 1987); IN WEITER FERNE SO NAH 1993).
Im Laufe seiner internationalen Karriere spielte er unter anderem in DIE MARQUISE VON O (1976) von Eric Rohmer, DIE EWIGKEIT UND EIN TAG (1998) von Theo Angelopoulos, BROT & TULPEN (2000) von Silvio Soldini, DER UNTERGANG (2004) von Oliver Hirschbiegel.
Weiter spielte er in LUTHER (2003) von Eric Till, in JUGEND OHNE JUGEND (2007) von Francis Ford Coppola, in DER BAADER MEINHOF KOMPLEX von Uli Edel (2008) und in DER VORLESER von Stephen Daldry (2008).
Bruno Ganz wirkte auch in einigen Schweizer Filmen mit, so etwa in DER ERFINDER (1980) von Kurt Gloor, in VITUS (2006) von Fredi M. Murer, in GIULIAS VERSCHWINDEN (2009) von Christoph Schaub und in DER GROSSE KATER (2010) von Wolfgang Panzer.
Der 1940 in Beckenried geborene Fredi M. Murer arbeitet seit 1967 als freischaffender Filmemacher und Produzent in Zürich.
2007 wurde er für den Spielfilm «Vitus» mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet.
Kurze Filmographie:
1974 Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind (Documentary)
1985 Höhenfeuer (Fiction)
1998 Vollmond (Fiction)
2004 Downtown Switzerland (Co-Director, Documentary)
2006 Vitus (Fiction)
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