Geburtshaus von Dada ist für 13 Millionen zu haben
Die Dada-Bewegung in Zürich steht vor einem Kampf ums finanzielle Überleben. Die Antwort auf das Problem: Das Dada-Geburtshaus soll zu einem Gesamtkunstwerk werden und einen Mäzen finden, der bereit ist, dafür die fürstliche Summe von mindestens 13 Millionen Franken auf den Tisch zu blättern.
Das Zürcher Cabaret VoltaireExterner Link ist nach einer wechselvollen Geschichte diesen Februar 100-jährig geworden. Nun soll seine Zukunft gesichert werden, indem man einen Kunstliebhaber mit einem grossen Portemonnaie sucht, der das unscheinbare Gebäude im kopfsteingepflasterten Niederdorf als Gesamtkunstwerk, als Skulptur kaufen will.
Diese neuartige Idee war ein Geistesblitz des Schweizer Künstlers Kerim Seiler. Adrian Notz, Direktor des Cabaret Voltaire, ist überzeugt, dass das Vorhaben nicht nur die unmittelbaren Finanzprobleme des Dada-Hauses lösen, sondern dem Geburtshaus der provokativen Kunstbewegung auch erlauben könnte, frei von künftigen wirtschaftlichen Zwängen und politischen Querelen zu gedeihen.
«Es wäre schön, die Skulptur als Wohnraum für Künstler anzubieten, die das Haus betreiben und es als einen etwas internationaleren Treffpunkt führen würden», sagt Notz. «Das wäre eine sehr starke Geste für die Kunst. Der Kunstmarkt ist gegenwärtig so verrückt, dass es tatsächlich funktionieren könnte!»
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Von einem künftigen Käufer wird erwartet, dass er oder sie in die Dada-Bewegung investiert und nicht einfach das Gebäude in ein Mehrfamilienhaus umwandelt. «Man kauft auch keinen Van Gogh, zerschneidet diesen und verwandelt ihn in einen Teppich, denn man weiss: Es ist ein Kunstwerk», sagt Notz. «Im gleichen Sinn würde man auch am Cabaret Voltaire nichts verändern wollen.» So soll ein künftiger Besitzer das Haus permanent Dada-Künstlern überlassen.
Das Cabaret Voltaire war 2002 nach einer Besetzung wieder als Dada-Haus genutzt worden. Die offizielle Wiedereröffnung fand 2004 statt. In diesem Haus an der Spiegelgasse 1 hatte die Dada-Bewegung um die Antikriegs-Künstler Hugo Ball und Emmy Hennings 1916 ihre Anfänge genommen.
Finanzielle Belastung
Kerim Seiler erzählt, er wolle die Leute «umprogrammieren», damit sie das Cabaret Voltaire als «historisches Monument» betrachteten. «Es sollte nicht darum gehen, wer es besitzt. Es ist nicht ein Stück Material, kein Investitionsobjekt. Es ist ein Ort, an dem einige Migranten Dinge taten, die unsere Wahrnehmung der Existenz verändert haben.»
Das Cabaret Voltaire einem Kunstsammler zu verkaufen, mag für einige idealistisch tönen, vielleicht oberflächlich gesehen auch unrealistisch. Doch vielleicht ist es nicht nur ein Wunschtraum oder ein Werbegag. Vor acht Jahren nämlich interessierte sich ein Schweizer Kunstliebhaber für das Theater. Die Finanzkrise setzte dem vorgeschlagenen Deal den Todesstoss, doch Notz merkte, dass das Konzept eine Wiederaufnahme verdienen würde.
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Warum aber ein solch drastischer und bahnbrechender Schritt? Das Gebäude gehört dem Schweizer Versicherungsriesen Swiss Life, der jährlich 315’000 Franken Miete verlangt. Die Betriebskosten des Nonprofit-Unternehmens betragen pro Jahr rund 500’000 Franken.
Der Uhrenhersteller Swatch, der das Cabaret Voltaire jährlich mit 300’000 Franken unterstützte, stieg vor einigen Jahren aus, und das Geld von Kulturstiftungen fliesst immer spärlicher. «Dada hat nicht das richtige Image für Banken, und im gegenwärtigen Wirtschaftsklima ist die Sponsorensuche sehr schwierig», betont Notz.
«Schweizer Stiftungen konzentrieren sich auf Schweizer Künstler und Projekte. Dada wurde zwar hier geboren, ist aber nicht sehr schweizerisch. Trotzdem erhalten wir etwas an Unterstützung von Stiftungen.»
Sexsklaven und «Skandale»
Der Zürcher Stadtrat, die Regierung der Stadt Zürich, zahlt die Miete des Cabaret Voltaire, allerdings führt die Debatte darüber immer wieder zu starker politischer Opposition von Seiten der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Sie hat keine Freude daran, dass Steuergelder für ein Haus ausgegeben werden, in dem dermassen provokative Aktionen über die Bühne gehen wie ein Live-Casting von Sexsklaven oder eine Performance, bei der ein Paar aufeinander urinierte.
2008 lancierte die SVP das Referendum gegen eine dreijährige Mietverlängerung, die das Stadtparlament beschlossen hatte. Es scheiterte an der Urne.
Und 2013, als es darum ging, das 100-Jahr-Jubiläum von Dada finanziell zu unterstützen, reichten zwei Parteivertreter ein Postulat ein, das verlangte, die Vorbereitungsarbeiten zu sistieren. Die Stadt Zürich habe bereits rund 4 Millionen Franken für die Neubelebung des Dadaismus investiert, hiess es.
Dada wird 100 jährig
Die Dada-Bewegung wurde 1916 von einer Künstlergruppe um Hugo Ball und Emmy Hennings in Zürich gegründet. Sie führten ihre Vorstellungen im dafür gegründeten Cabaret Voltaire auf.
Das Theater wurde bald schon wieder als Kneipe geführt. Über die Jahrzehnte befand es sich in einem immer schlechteren Zustand. 2002 besetzte eine Künstlergruppe um Mark Divo das Haus und rettete es so vor dem Abriss. Am 30. September 2004 eröffnete das Cabaret Voltaire erneut seine Türen, dank einem Zuschuss der Stadt.
Dada war ursprünglich eine künstlerische Ausdrucksform des Protests gegen die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die mit einem antiästhetischen und oft schockierenden Stil etablierte Konventionen brach. Um die Herkunft des Namens ranken sich zahlreiche Legenden. Dada breitete sich rasch über Europa und die USA aus und hatte seine Hochblüte von 1916 bis 1920.
Übers ganze Jubiläumsjahr 2016 verteilt sind verschiedenste Veranstaltungen in Theatern, Museen, Musiklokalen, an Festivals und im Internet geplant – nicht nur in Zürich. Eine Übersicht bietet die Website zum 100-Jahr-JubiläumExterner Link.
«Die Folgen davon sind 10 Jahre Flops, Skandale, flüchtende Sponsoren.» Der Dadaismus wird darin unter anderem als «absurd», «lächerlich» und «befremdlich» beschrieben. «Der Pazifismus als primärer Beweggrund ist eine nachträgliche, gutmenschliche Projektion.»
Dada-Zeitgeist
Dada möge einigen unerhört erscheinen, doch die Provokation geschehe nicht um ihrer selbst willen, kontert Notz. Dada versuche vielmehr, Stereotypen zu hinterfragen und die Leute daran zu erinnern, dass es ein Leben jenseits der vom Establishment geforderten Konformität gebe.
Das Cabaret Voltaire, gefangen zwischen der kalten Realität der Marktkräfte und der Hitze der ruppigen Politik, müsse sich davon freimachen, um überleben und blühen zu können. Eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne generierte 100’000 Franken für die Jubiläumsfeierlichkeiten, doch Notz glaubt nicht, dass dies eine nachhaltige Finanzierungsoption ist, ausser bei gelegentlichen Spezialprojekten.
Das Theater macht etwas Geld mit einem Shop, einer Bar und der Vermietung der Lokalitäten für künstlerische Performances, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Firmen-Weihnachtsfeiern. Das reicht aber nicht für eine finanzielle Unabhängigkeit. Deshalb brauche es einen reichen Kunstliebhaber, der dem Dada-Haus für den Start in die nächsten 100 Jahre eine Atempause verschaffe.
«Wenn man von Dada als Zeitgeist spricht, braucht es diesen Ort nicht. Doch Menschen sind Menschen, und sie möchten Dada gerne mit einem Ort identifizieren», sagt Notz. «Für Dada wäre es nicht tragisch, falls das Cabaret Voltaire nicht mehr existieren würde, für Zürich aber wäre es eine Katastrophe. Auch wenn sich andere Städte wie Paris oder Berlin mit Dada identifizieren, kann es nur einen Geburtsort geben. Sollte das Cabaret Voltaire seine Türen dichtmachen müssen, kann ich mir vorstellen, dass die ganze Welt über Zürich lachen würde.»
Natürlich würde die revolutionäre Idee nur funktionieren, falls Swiss Life einverstanden wäre, das Gebäude an der Spiegelgasse zu verkaufen. «Es ist verständlich, dass das Haus in diesem Dada-Jubiläumsjahr Thema kreativen Denkens ist. Trotzdem lassen wir uns in keine Spekulationen hineinziehen», schreibt der Versicherungskonzern.
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«Dada Universal»
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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