Der Schmerz der Erinnerung und ein Schulheft voller Gräueltaten
Die Schweizer Regisseurin Heidi Specogna präsentierte am Filmfestival Locarno den eindrücklichen Dokumentarfilm "Cahier africain". Anhand eines Porträts von zwei jungen Frauen wird das Drama des jüngsten Bürgerkriegs in der Zentralafrikanischen Republik aufzeigt. Die Dreharbeiten erfolgten über einen Zeitraum von sieben Jahren. Der Film lief als Weltpremiere in der Sektion "Semaine de la critique".
Alles beginnt mit einem Schulheft. Die ausgefransten Seiten sind gefüllt mit Aussagen von 300 Frauen, Männern und Kindern. Erzählt werden die Gräueltaten, die von Jean-Pierre Bemba und seinen Handlangern verübt wurden. Der kongolesische Politiker Bemba wurde im Juni 2016 vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wegen den in den Jahren 2002 und 2003 verübten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.
Heidi Specogna entdeckte dieses Schulheft im Jahr 2008 ganz zufällig auf dem Tisch einer kleinen Nichtregierungsorganisation. Damals begleitete sie einige Mitarbeitende des Internationalen Strafgerichtshofs bei der Arbeit für ihren Dokumentarfilm «Carte Blanche». Specogna war von den Aufzeichnungen erschüttert. Sie filmte jede Seite und stellte das Material dann dem Strafgerichtshof als Beweismaterial gegen Bemba zur Verfügung.
Der Schweizer Regisseurin gelang es dann, auch dank der Nachforschungen des IStGH, einige Personen zu identifizieren, von denen im Schulheft die Rede ist. Sie kehrte in die Hauptstadt Bangui, ins Quartier PK12, zurück. Sie wollte, dass die Betroffenen ihre eigenen Erlebnisse erzählten. Specogna wollte herausfinden, ob die Wunden so viele Jahre nach dem Krieg verheilt sind.
Mit sehr viel Einfühlungsvermögen und einer sinnlichen Bildersprache gelingt so im Film «Cahier africain» das Porträt der jungen Frauen Amzine und Arlette, die im Schmerz vereint sind, aber unterschiedlichen Religionen angehören. Amzine ist Muslimin, Arlette ist Christin.
Geduld und Ausdauer
«Sie kamen nachts. Sie waren zu siebt. Sie schossen um sich. Es war schrecklich. Dann haben mich drei von ihnen vergewaltigt. Ich wurde schwanger und habe ein Kind bekommen.» Amzine sitzt ruhig auf einem Stuhl und erzählt dieses tragische Erlebnis. Ihr Gesicht ist gut sichtbar. Sie scheint die Fernsehkamera nicht zu fürchten.
Heidi Specogna erarbeitete sich das Vertrauen der Frauen mit Geduld und Ausdauer. «Du bist diejenige, die zurückkommt», sagten sie ihr. Und sie hatten ganz offenbar das Bedürfnis, dass sie ihre Geschichten erzählen konnten und ihnen jemand zuhört. Hilfreich wirkte sich zudem aus, dass zu dieser Zeit der Internationale Gerichtshof gegen Jean-Pierre Bemba ermittelte. Dies machte den Opfern Hoffnung und legitimierte ihre Erzählungen zusätzlich.
Diese Legitimität war in einem Umfeld wie in Zentralafrika besonders notwendig. Obwohl die Gewalt in den Jahren 2002 die ganze Gesellschaft betraf, wurden die Opfer danach praktisch sich selbst überlassen, sogar marginalisiert und selbst beschuldigt. «Die Leute im Quartier zeigten auf mich. Ich spüre noch ihre Blicke», erzählt Amzine im Film. Ihrer mittlerweile 13-jährigen Tochter hat sie nie gesagt, wer ihr leiblicher Vater ist. «Es gibt zudem ein Gefühl der Bitterkeit in Bezug auf die Männer, weil diese während der Angriffe der kongolesischen Streitkräfte die Dörfer verliessen und so die Frauen mit den Angreifern alleine liessen», sagt die Regisseurin.
Plötzlich im Kriegszustand
Heidi Specogna ist keine Frau oberflächlicher Recherchen. Von Berlin, wo sie seit Jahrzehnten lebt, kehrte sie mehrmals ins Quartier PK12 zurück. Sie lebte sich dort ein, beobachtete, hörte zu. Im Jahr 2012 wird sie aber von den neuesten Entwicklungen überrascht. Ein neuer Krieg zeichnet sich ab.
In einer nördlichen Region des Landes, einem armen und isolierten Landstrich, bricht eine Revolte aus. Mehrere Bewegungen vereinigen sich zur «Séléka», einer Allianz mit einer muslimischen Mehrheit, die nach einigen Monaten die Hauptstadt Bangui besetzt. Präsident François Bozizé wird gezwungen, das Land zu verlassen.
Heidi Specogna nimmt ihre Filmkamera zur Hand und bleibt ihren Hauptfiguren auf den Fersen: «Im Land herrschte das pure Chaos. Wir wussten nicht, wie wir uns verhalten sollen. Denn einmal waren die Gefechte in einem Quartier, dann in einem anderen. Es waren keine Reporter unterwegs. Und nicht einmal das französische Militär konnte verlässliche Informationen liefern. Ich hatte noch nie in seinem solchen Umfeld gearbeitet.»
Ein Exodus
Die Bilder von Heidi Specogna beschreiben den Exodus, der durch den Krieg ausgelöst wird. Menschen auf der Flucht. Einige Habseligkeiten auf einem Karren, Angst, Einsamkeit. «Es ist, als ob der Teufel auf einem wütet», sagt ein Mann.
Der Konflikt ist aus sozio-ökonomischen Gründen ausgebrochen. Doch er entwickelt sich schnell auch zu einem religiösen Konflikt – zwischen den muslimischen Viehzüchtern, Nomaden, und den sesshaften Bauern christlichen Glaubens. Die Situation ist vollkommen neu in einem Land, in dem die unterschiedlichen Gemeinschaften stets nebeneinander in den gleichen Dörfern und Quartieren lebten. «Sie heirateten zwar nicht untereinander, aber es hatte keinerlei Bedeutung, ob der Nachbar Katholik oder Muslim war», sagt Heidi Specogna.
Zu den ersten Personen, die sich auf die Flucht machten, gehörte Arlette. Gemeinsam mit Tausenden anderen Flüchtlingen suchte sie Schutz nahe des Flughafens, wo die französische Armee stationiert ist. Nach einigen Monaten eroberten die christlichen Truppen aber die Macht zurück. Danach geriet die muslimische Minderheit unter Druck.
Im Jahr 2015, genau sieben Jahre nach den ersten Aufnahmen, trifft Heidi Specogna die junge Amzine erneut in Tschad, wo sie als Flüchtling mit Tausenden anderen Muslimen gestrandet ist. «Wir konnten nichts mitnehmen, nicht einmal meinen roten Rucksack“, sagt die Tochter von Amzine, während sie ein Fotoalbum der Regisseurin durchblättert. Ihr neues Leben beginnt hier: Eine Hütte, ein kleines Stück Land und ein Tisch.
Menschliche Aspekte im Vordergrund
Die ehemalige Journalistin Heidi Specogna geht nicht auf die Ursachen des Konflikts ein. «Dazu gibt es bereits viele gute journalistische Berichte und Recherchen», sagt sie. Specogna verfolgt einen menschlichen Ansatz. Und zieht diesen bis zum Ende durch. Die beiden Hauptfiguren begleiten den Zuschauer durch den ganzen Film. Es tun sich viele Fragen auf. Bewegende Musik setzt ein, wenn die Worte nicht mehr ausreichen, um den Horror zu beschreiben.
«Cahier Africain» endet einige Monate, bevor der Internationale Strafgerichtshof sein historisches Urteil gegen Bremba fällt. Erstmals wird dabei sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen eingestuft. Das Urteil lautet auf 18 Jahre Gefängnis.
Wie reagierten Arlette und Amzine auf dieses Urteil? Man weiss es nicht, denn Heidi Specogna ist es nicht mehr gelungen, mit ihnen zu sprechen. «Wahrscheinlich erwarteten die Leute aber ein höheres Strafmass, da die Anklage mindestens 25 Jahre Gefängnis verlangt hatte», sagt die Regisseurin.
Für die beiden jungen Frauen, die Protagonistinnen des Films, dürfte der Hunger nach Gerechtigkeit und Aufklärung sowieso nur von untergeordneter Bedeutung sein. Die höchste Priorität hat sicherlich ihr eigenes Überleben.
Jean-Pierre Bemba
Der reiche Geschäftsmann Jean-Pierre Bemba wird als politischer Erbe von Mobutu Sese Seko gesehen, der 30 Jahre lang in Kongo ein diktatorisches Regime führte. Nach dem Fall von Mobutu im Jahr 1997 gründete Bemba eine gegen den neuen Machthaber Laurent-Désiré KabilaExterner Link gerichtete Befreiungsbewegung, das «Mouvement de Libération du CongoExterner Link» (MLC) sowie deren militärische Abteilung «ALC». Bemba wird beschuldigt, für in dieser Zeit von der ALC im Kongo und in der Zentralafrikanischen RepublikExterner Link begangene Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein.
Mit dem Friedensvertrag von 2003 – nach sechs Jahren blutigem Bürgerkrieg – wird Bemba zum Vizepräsidenten der Demokratischen Republik Kongo ernannt. 2007 kann er sich bei den Präsidentschaftswahlen nicht durchsetzen und flieht dann nach Portugal. Ein Jahr später wird er aufgrund eines internationalen Haftbefehls in Brüssel verhaftet. Am 21. Juni 2016 wird er wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit für die in den Jahren 2002 und 2003 in der Zentralafrikanischen Republik begangenen Vergehen für schuldig befunden. Das Strafmass beträgt 18 Jahre Gefängnis.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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