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Carlo Chatrian: Ein intellektueller Grenzgänger

Keystone

Er liebt das Kino, weil es eine Traum-Maschine ist. Carlo Chatrian ist gesprächig, ungezwungen und zielstrebig. Am 7. August eröffnet er seine erste Ausgabe des Filmfestivals Locarno. Er hat keine Angst davor, vielmehr freut er sich auf die Begegnung mit dem Publikum. swissinfo.ch schaute ihm bei den Vorbereitungen über die Schultern.

Wir treffen uns vor seinem «Pied à terre», wenige Schritte von der Piazza Grande entfernt, jenem Platz, auf dem im Tessiner Städtchen Locarno im August die Filmwelt zu Hause ist. Es sei ein anonymes, uninteressantes Appartement, erklärt er mir, ein Besuch lohne sich nicht. Hier schläft er, arbeitet bis spät in die Nacht und sehnt sich nach der Kühle in seinem Haus in einem Bergdorf im italienischen Aostatal.

Pünktlich um halb acht ist er zur Tür hinausgekommen. Am Rücken trägt er einen Rucksack, in der Hand einen Müllsack. Der pragmatische Carlo Chatrian scheint nicht viel auf Förmlichkeit zu geben.

Ein Privileg der Künstler? Oder der Intellektuellen? So beschreibt ihn die Presse gerne. Sei es seine geschliffene Art, zu sprechen, sein Abschluss in Literatur und Philosophie oder seine ungezwungene Art. Er lächelt, ein wenig verlegen. «Das muss wohl an meiner Brille liegen… Sogar meine Kinder machen sich ihretwegen über mich lustig.»

Und er ergänzt, fast als wolle er sich rechtfertigen: «Jeden Mittwoch gehe ich mit Kollegen Fussball spielen. Das ist sicher nicht eine Aktivität, die man mit einem Intellektuellen in Verbindung bringt, oder?»

Zügig geht es in Richtung seines Büros. Unterwegs will er sich noch einmal über meine Absichten versichern: «Sie werden mir einen halben Tag lang über die Schultern schauen, korrekt? Aber nicht, dass Sie mir dabei ständig Fragen stellen… Wissen Sie, ich muss arbeiten», sagt er mir in scherzhaftem Ton, wenn auch leicht beunruhigt.

Chatrian hat keine Zeit zu verlieren, und Daumen zu drehen ist nicht sein Ding. Ist er hyperaktiv? «Vielleicht ein wenig nervös», sagt er.

Das Kino – eine Traum-Maschine

Der Journalist, Autor und Programmverantwortliche Chatrian ist im September 2012 zum künstlerischen Direktor des Filmfestivals nominiert worden, nach dem überraschenden Rücktritt von Olivier Père.

Er ist jedoch kein unbekanntes Gesicht in Locarno: Seit 2002 arbeitet der 42-Jährige für das Festival. Von 2006 bis 2009 war er Teil des Auswahlkomitees, in den letzten Jahren hat er die Retrospektiven kuratiert.

Seine Passion für das Kino geht auf seine Universitäts-Jahre zurück. Von klein auf hat er Filme am Fernsehen geschaut, wie alle. In den ersten Studienjahren in Turin verliebte er sich mit «Hiroshima, mon amour» auf den ersten Blick ins Kino. Ein Film, den er «erschütternd» fand und der ihm die Augen geöffnet habe.

«Für mich ist das Kino eine Traum-Maschine. Einige Träume gleichen stark der Realität, andere weniger. Sie können ein Schlüssel dazu sein, zu verstehen, wer wir sind, oder auch einfach Ablenkung ohne tieferen Sinn. Diese Vielfalt ist es, was mich fasziniert.»

Mehr gibt er nicht preis. Verschiedene Filme hätten ihn berührt, erklärt er. Gibt es ein Genre, das ihn besonders anzieht? Er lacht. Falsche Frage… «Ich weiss nicht, warum ihr Journalisten diese Fixation habt. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der sich der Begriff des Genres im Kino aufgelöst hat. Für mich ist die Kinobegeisterung – ein Begriff, den vielleicht einige belächeln – genau diese Fähigkeit, die Genres zu durchkreuzen.»

Und sein Festival erinnert ein wenig daran: Zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Genres, zwischen Sprachen und Kulturen. Nicht von ungefähr bezeichnet Chatrian selber das Festival als «grenzwertig». 

Internationaler Wettbewerb: Im Rennen um den goldenen Leoparden sind 20 Filme, darunter 18 Weltpremieren.

Drei davon sind Schweizer Filme: «Mary, Queen of Scots» von Thomas Imbach, «Tableau noir» von Yves Yersin (Dokumentarfilm) und «Sangue» des italienischen Regisseurs Pippo Delbono (Koproduktion mit RSI).

Piazza Grande: 16 Filme, darunter 2 Schweizer Koproduktionen: Jean-Stéphane Bron bringt den Dokumentarfilm «L’expérience Blocher» nach Locarno, Lionel Baier präsentiert «Les grandes ondes (à l’Ouest)».

Der Ehrenleopard wird dieses Jahr an den Deutschen Regisseur Werner Herzog vergeben, die Retrospektive ist dem Schaffen von George Cukor (1899-1983) gewidmet.

Auf dem roten Teppich werden erwartet: Christopher Lee, Victoria Abril, Anna Karina, Sergio Castellitto, Otar Iosseliani, Jacqueline Bisset, Faye Dunaway und viele weitere.

Kleine Details

Als ich ihn treffe, an einem Donnerstag Ende Juli, bleiben nur noch wenige Tage bis zu seinem Debut auf der Piazza Grande. Das Programm wurde bereits präsentiert, die Kritik scheint begeistert zu sein. Die grossen Brocken sind gestemmt. Es fehlen noch einige Namen, vielleicht eine Überraschung, und die kleinen feinen Details, um die er sich noch kümmern muss.

Er bittet mich um eine Stunde Ruhe, um seine Artikel zur Präsentation der Filme und Regisseure fertigzustellen: Werner Herzog, Christopher Lee, Sergio Castellitto, Anna Karina… «Manchmal schaffe ich es, einfach draufloszuschreiben; normalerweise brauche ich aber Ruhe, um Ideen zu entwickeln. Und ich muss dieser Tendenz entgegenwirken, zu abstrahieren und theoretisieren.»

Ich profitiere von seiner Bitte und schaue mich ein wenig um: Ein Sofa, zwei Festival-Poster an den Wänden, eine Bibliothek mit ein paar wenigen Büchern. «Die sind alle von meinen Vorgängern. Meine sind daheim geblieben.» Das Büro ist ordentlich, ohne steril zu wirken.

Um neun beginnt das Karussell von Terminen. Die Entwürfe des Katalogs korrigieren, das Layout des Festival-Magazins festlegen. Dann macht er sich daran, die Agenda fürs Festivals zu planen: Verschiedene Interviewtermine und repräsentative Auftritte an Cocktail-Empfängen müssen koordiniert werden, doch zuallererst sieht er sich als die Seele des Festivals: Treffen mit Regisseuren, Schauspielern, dem Publikum.

Sein Blick schweift unruhig von einem Ort zum anderen: Dokumente, Computer, Mobiltelefon, Agenda. Dann plötzlich hört er auf und schaut mir direkt in die Augen.

Seine Angestellten kommen und gehen. Manchmal enerviert er sich auch, wie einer, der weiss, was er will und sich nicht scheut, es auszusprechen. «Normalerweise geht das rasch vorbei. Ich glaube nicht, dass ich ein Tyrann bin. Aber fragen Sie doch meine Kollegen.» 

Der Journalist, Autor und Programmverantwortliche Carlo Chatrian ist am 9. Dezember 1971 im italienischen Turin geboren und hat Abschlüsse in Literatur und Philosophie sowie Journalismus und Kommunikation.

Er hat zahlreiche Biografien und Monografien über Regisseure wie Errol Morris, Wong Kar Wai, Johan Van Der Keuken, Frederick Wiseman, Maurizio Nichetti und Nicolas Philibert verfasst.

Von 2001 bis 2007 war Chatrian Vizedirektor des «Alba Film Festivals» und Mitglied der Auswahlkommissionen des «Festival dei Popoli» in Florenz und des Festivals «Visions du Réel» in Nyon.

Zudem arbeitete er als Programmverantwortlicher zusammen mit Festivals wie «Cinéma du réel» (Paris) oder dem «Courmayeur Noir In Festival» sowie mit Institutionen wie dem nationalen Filmmuseum Turin.

Chatrians Zusammenarbeit mit dem Filmfestival Locarno begann 2002; von 2006 bis 2009 war er Mitglied der Auswahlkommission.

Im Rahmen der letzten Festivalausgaben verantwortete er als Kurator die Retrospektiven (Nanni Moretti, Manga Impact, Ernst Lubitsch, Vincente Minnelli, Otto Preminger).

Seit 2010 war er zudem als Berater für das schweizerische Filmarchiv tätig – ein Amt, das er nach seiner Nominierung zum künstlerischen Direktor von Locarno im September 2012 abgegeben hat.

Warten auf den grossen Tag

Der Zufall will es, dass ausgerechnet an diesem Tag die Internationalen Filmfestspiele von Venedig ihr Programm veröffentlichen. «Ah… Viele dieser Filme habe ich auch gesehen», flüstert Chatrian.

Sind ihm ein paar durch die Lappen gegangen? «Einige der Filme hätte ich mir auch für Locarno gewünscht, aber das sind die Spielregeln. Die Leute, die für die Festivals arbeiten, sind aber eher Komplizen als Konkurrenten. Wir alle teilen die gleiche Passion für das Kino und tauschen ab und zu auch wertvolle Informationen aus. Die Konkurrenz existiert, aber das ist gesund.»

Im letzten Jahr hat Carlo Chatrian auf der Suche nach den Filmen für sein Programm die Welt umrundet und über tausend Filme gesehen. Die starken Trends? «Vermutlich die Fragen nach Familie und Identität, aber auch die Erinnerung.»

Für seine erste Ausgabe strebt er keine Revolution an. «Seit 2001 hat das Festival vier künstlerische Direktoren gehabt; was es jetzt braucht, ist Kontinuität. Es wird an Publikum und Kritikern sein, zu beurteilen, welcher Art mein Fingerabdruck auf das Festival war. Das Programm ist unter aller Augen.» Unterstreichen will er aber noch Folgendes: «Ein Festival-Direktor soll jemand sein, der die Filme ins Zentrum stellt, und nicht sich selbst.»

Am Mittwoch, 7. August werden ihn am Eröffnungsabend fast 8000 Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Bühne erwarten. Er hat keine Angst davor, versichert er mir. «Warum sollte ich? Ich will nicht angeberisch erscheinen, aber wir haben ein ganzes Jahr lang hart gearbeitet, um hierhin zu kommen. Ich bin höchstens etwas angespannt… Und vor allem freue ich mich darauf, unser Publikum zu treffen.»

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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