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Chronik eines Niedergangs: 260’000 Fotos zur Industriegeschichte der Schweiz online 

Arbeiter vor einem riesigen Metallrohr
Arbeiter in der Maschinenfabrik Bell-Escher Wyss, Kriens, 1994 ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Bärtschi, Hans-Peter

Der Zürcher Industriehistoriker Hans-Peter Bärtschi dokumentierte das Verschwinden der Schweizer Industrie. Nun wurden 260'000 seiner Fotos aufgearbeitet und sind online frei zugänglich.  

Das älteste Foto in seinem Archiv datiert vom 13. Januar 1963 und zeigt den Zusammenstoss einer Gaswerklokomotive mit einem Trolleybus, vom Fenster seines Zimmers in Winterthur aus fotografiert. Damit war so etwas wie ein Lebensthema gesetzt: Eisenbahnen und Industrie. 

Das Bildarchiv, das an die ETH-Bibliothek ging, umfasst rund 260’000 Fotos. Diese sind nun frei zugänglich, ihre Verwendung steht  dank einer offenen Creative Commons Lizenz (CC BY-SA 4.0) für sämtliche Nutzungszwecke offen.  Das Archiv umfasst einen Zeitraum von 56 Jahren von 1965 bis 2021 und ist das grösste Archiv zur neueren Schweizer Industriegeschichte, das komplett frei zugänglich ist. Weitere Bilder sollen in Bälde dazukommen, heisst es bei der ETH.

Insgesamt arbeiteten vier studentische Hilfskräfte an der ETH-Bibliothek während vier Jahren an der Digitalisierung dieser Datenbestände. In einem zweiten Schritt werden die Bestände mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz erschlossen, erklärt Nicole Graf. Ein Programm analysiert den Bildinhalt und gibt sogenannte Autotags aus. Die alphabetische Liste an Autotags reicht von «Aasfresser» bis «Zypressenholz». Dass sich die Software manchmal irrt und zum Beispiel ein Abakus-Rechengerät nicht von einer Anordnung von Rollen zur Fussmassage unterscheiden kann, nimmt man in Kauf.

Bärtschi war seit seinem 13. Lebensjahr mit der Kamera unterwegs. Er fotografierte zunächst Dampf- und E-Loks, Trambahnen, Trolleybusse und Industriebauten aus der Umgebung. Für das Inventar der Schweizer Bundesbahnen SBB, sein erster Grossauftrag, fotografierte er alle SBB-Bahnhöfe. 

So ist eine fast unübersehbare Anzahl von Bildern zusammengekommen. Dass viele seiner frühen Eisenbahn-Bilder im Winter entstanden sind, hat einen einfachen Grund: Bei kaltem Wetter sieht man den Dampf einer Dampfbahn-Lokomotive besser.  

Lichtdurchflutete INdustriehalle
Halle in der Maschinenfabrik Bell-Escher Wyss, Kriens 1994 ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Bärtschi, Hans-Peter

Der Chronist des Niedergangs

Bereits 2014 übergab Bärtschi sein Erbe dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek in Zürich. «Es war für ihn ein sehr emotionaler Moment, denn damit kehrten die Bilder dorthin zurück, wo für ihn alles angefangen hatte», erinnert sich Nicole Graf, die Leiterin des Bildarchivs. Hans-Peter Bärtschi hatte 1976 sein Diplom als Architekt erworben und 1980 dort auch seine Dissertation geschrieben.  

Hans-Peter Bärtschi wurde – ohne dies gewollt zu haben – zum Chronisten des Niederganges der Schweizer Industrie. Das hat ihn zeitlebens bedrückt und wütend gemacht; das Verschwinden der Industrie war für ihn nicht einfach eine Folge der Globalisierung, sondern auch das Resultat eines Profitdenkens in einer Wirtschaft, die zunehmend von der Finanzindustrie dominiert wurde. Bärtschi hat das Ende der Schweizer Industrie einmal mit dem «Grounding» der Swissair verglichen, das niemand wahrgenommen hat, weil es nicht innert weniger Monate, sondern in einem Zeitraum von 30 Jahren passiert ist.  

Trolleybus
Trolleybus, aufgenommen aus Bärtschis Kinderzimmer in Winterthur, 1968 ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Bärtschi, Hans-Peter

Hans-Peter Bärtschi pflegt notgedrungen einen rückwärtsgewandten Blick; allerdings hat er durchaus festgestellt, dass es der Schweiz gelungen ist, Innovation zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist die Transformation der Uhrenindustrie mit Billigprodukten wie der Swatch und High-End Uhren wie etwa der Monduhr von Omega. Mit Stadler Rail konnte auch die Herstellung von Lokomotiven und Bahnen wieder zur neuen Blüte gelangen.  

Einen wichtigen Teil in der Bilddokumentation nehmen seine Auslandreisen ein: 120 Länder hat er im Lauf seines Lebens bereist, viele davon mehrfach, und auch dort hat er sich auf die Dokumentation der Industrie fokussiert, ein wichtiges Thema war auch wiederum da die Eisenbahn.  

Bereits als kleiner Junge beobachtete Bärtschi von einem Bahnwärterhäuschen aus Züge, sie waren ihm, so schrieb er, «zum Geheimnis stiller Selbstbeschäftigung und zum Inbegriff für sehnsüchtiges Fernweh» geworden. Als Erwachsener recherchierte Bärtschi, welche Dampfbahnen verschwinden würden – weltweit. Er hat als einer der letzten Zeugen noch die pakistanischen Schmalspur-Dampfbahnen an der afghanischen Grenze, die Bahnen zur Schwerindustrie in den Ural oder die Kolonialbahnen in Ost-Afrika dokumentiert. 

Leere Fabriksäle in einer ehemaligen Spinnerei
Leere Fabriksäle in einer ehemaligen Spinnerei im Aathal bei Zürich, 1986 ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Bärtschi, Hans-Peter

Hans-Peter Bärtschi verfasste in seinem Leben zahlreiche Gutachten für industriehistorische Projekte, seine Expertise war auch bei der Arbeit für das Unesco Welterbe Albulabahn gefragt. 1991 gründete er die Schweizerische Gesellschaft für Technik- und Industriegeschichte SGTI, die heute zu einer wichtigen Stimme im Bereich der Industriegeschichte geworden ist. 

Die Akribie, mit denen der Hans-Peter Bärtschi arbeitete, grenzte bisweilen an eine Besessenheit; neben dem Bildarchiv gibt es ein ebenso umfassendes Archiv von gedruckten Dokumenten und Objekten, dazu gehören neben Schildern von SBB-Zügen auch zahlreiche liebevoll gestaltete Modelle von Bahnhöfen und Industrieanlagen. Und selbstverständlich auch eine Modelleisenbahn, die heute noch durch die Wohnung fährt und von seiner Frau jede Woche einmal laufen gelassen wird, damit sie keinen Staub ansetzt. 

Treppenhaus, von oben gesehen
Baden, BBC (1991) ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Bärtschi, Hans-Peter

Weil sich für die riesige Dokumentation – insgesamt über zehn Tonnen Material – kein externer Partner gefunden hat, fand man eine andere Lösung und brachte das Material in eine eigene Stiftung ein – Stiftung Industriekultur – und kaufte dafür eine eigene Archivwohnung in Zinzikon bei Winterthur. Auch diese Sammlung soll die beiden Stifter Hans-Peter Bärtschi und seine Frau Sylvia Bärtschi-Baumann überleben.  

Vom Kommunisten zum Bahnliebhaber 

Hans-Peter Bärtschi hat bereits als Student in den 1970er- und 1980er-Jahren Auslandreisen gemacht und war in dieser Zeit auch in kommunistischen Ländern und im Ostblock unterwegs: In Albanien, Rumänien, Jugoslawien und China. Dafür gibt es einen interessanten lebensgeschichtlichen Hintergrund: Zwischen 1973 und 1987 war er Mitglied einer kommunistischen Splitterpartei, und zwar der maoistischen KPS/ML. 

Das Kürzel steht für Kommunistische Partei der Schweiz der Marxisten-Leninisten. Bärtschi hat diesen Abschnitt in seinem Leben im Jahr 2008 im Buch «Der Osten war rot» aufgearbeitet. Sein autobiografisches Buch liest sich heute fast wie eine ethnografische Studie, die durchaus von Ironie geprägt ist. Vorbild für die Partei war China und damit Mao-Tse-Tung, demgegenüber betrachtete man die damalige Sowjetunion als Hauptfeind. 

Gitter eines Gaswerks
Zürich, Schlieren, Gaswerk, 1980 ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Bärtschi, Hans-Peter

Die Parteimitglieder der KPS/ML – es dürften nie mehr als 80 gewesen sein – kannten die oberen Führer nicht und wussten nicht einmal deren Namen; einen der bekannten Vorgesetzen nannte man den «Kleinen Lenin», ein anderer erhielt den Spitznamen «Kleiner Stalin». Für den russischen Diktator Stalin hatte man eine gewisse Bewunderung, die mit in der Formel «Stalin war zu 70 Prozent gut und zu 30 Prozent schlecht» gipfelte. Die Partei wachte auch über die privaten Aktivitäten ihrer Mitglieder, so musste sich Bärtschi jede Auslandreise von seinen Parteivorgesetzten bewilligen lassen.  

Bärtschi erkannte im Lauf der Zeit, dass die Partei sektenartige Züge hatte und distanzierte sich davon. Dass gerade er, der einmal eine antiautoritäre Pfadfinderabteilung gegründet hat, sich in einer straff organisieren, autoritär geführten Partei engagierte, ist erstaunlich. Warum seine Mitgliedschaft dort fast zwanzig Jahre dauerte, bleibt auch nach der Lektüre des Buches unklar. 

Dass er sich in der Partei wohl fühlte und sicher auch Ansehen genoss, hat auch mit seiner Herkunft zu tun, auf die Hans-Peter Bärtschi stolz war. Bärtschi kam aus einer Arbeiterfamilie: Der Vater arbeitete als Fahrer bei einer Brauerei, seine Mutter nähte zuhause in Heimarbeit. Im Jahr 1957 zog die Familie nach Winterthur. Das war damals mitten in einem ein Industriequartier: Der Industriekonzern Sulzer hatte einen Teil seines Werks hier, die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik SLM, das städtische Gaswerk und der Rangierbahnhof standen dort. Bärtschi ist in einer Industrielandschaft aufgewachsen, die nach und nach verschwand.-

Hier finden Sie den Link zum Archivbestand. Externer Link

Einige der Bilder wurden auch in einem Buch herausgebracht: ETH-Bibliothek Zürich und Thomas Eichenberger: Eisenbahnbilder – Eisenbahnbild Schweizer Eisenbahnen im Fotoarchiv von Hans-Peter Bärtschi und der Stiftung Industriekultur. Zürich 2023. 

Turbinenrad in einem Kraftwerk
Kraftwerk von 1912 in Augst-Whylen ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Bärtschi, Hans-Peter

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