“Bern ist ein Grab” – Schriftstellerin Clarice Lispector wäre heute 100 geworden
Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector wäre heute 100 Jahre alt geworden. Im Ausland wurde sie erst kürzlich, Jahrzehnte nach ihrem Tod 1977, entdeckt. Erst jetzt wird ihr Gesamtwerk auch auf Englisch und Deutsch veröffentlicht. Von April 1945 bis Ende 1948 lebte sie in der Schweiz – es war ein Wendepunkt in ihrer Karriere.
Clarice Lispector verliess Brasilien 1944. Sie folgte ihrem ersten Ehemann, dem Diplomaten Maury Gurgel, und landete in Neapel in Süditalien. In der Stadt, die noch stark vom Krieg gezeichnet war, arbeitete Lispector in einem Krankenhaus des Roten Kreuzes. Doch als ihr Mann nach Bern versetzt wurde, erschien ihr das wie ein Sprung in die Dunkelheit.
Sie war damals 24 Jahre alt. Die Schweiz wurde für sie zu einer Art Filter für ihre Gefühle. Dies zeigen die Briefe an ihre Angehörigen, zu denen swissinfo.ch Zugang hatte. Die Schilderungen und Analysen, die sie ihren Schwestern Tania und Elisa schickte, die beide in Rio de Janeiro lebten, waren für die Schreibende eine Art Flucht aus einer Realität, die ihr hart und kalt erschien.
In einem Brief verglich die Schriftstellerin Neapel mit Bern: «In Neapel herrschte ein Leben, wo man keine Minute allein atmen konnte. Hier atmet man wirklich alleine.” Die Schweiz erschien ihr als nichts weniger als leblos: “Die Schweiz ist solide, und wenn man morgens die Augen öffnet, weiss man, dass sie da ist, wo man sie verlassen hat. Sie hat nicht den Charakter eines grossmütigen Landes wie z.B. Italien oder Frankreich, wo die Dinge so spontan und vielfältig sind, dass sie am Ende zu einer gewissen Verwirrung der Umwelt führen. Hier hat alles seinen Platz, es herrscht Stille und Würde. Exzessive Würde, manchmal».
Bern, 7. Juli 1946
«(…) Gestern hat es geregnet, was ausgereicht hat, um die Temperatur enorm zu senken, und ich habe mir Wolle auf meine Sommerkleider gestreut. Wie Sie sehen, ist das Klima nicht nur in Rio instabil. Und hier kann man noch die Härte des Klimas hinzufügen. Die Geschichte, dass die Menschen hier bocio (Doppelkinn) haben, ist eine alarmierende Realität. Wir sitzen mit 8 Frauen in einer Strassenbahn, und drei haben einen fortgeschrittenen Bocio. Es ist der Jodmangel in der Luft… Wir sind viel ins Kino gegangen, um blöde Dinge zu sehen. Während in Genf, Lausanne, gute Filme gezeigt werden, sind sie hier in Bern selten. Man sagt, es liege daran, dass die Berner sehr geizig sind und gute Filme mehr kosten».
Insbesondere mit der Stadt, in der sie wohnte, verband sie Hass auf den ersten Blick: Clarice konnte nicht anders, als auf Bern herum zu hacken. Sollten ihre Schwestern je zu Besuch kommen, kündigte sie ihnen 1946 an “sie gar nicht nach Bern kommen zu lassen und sofort mit ihnen nach Paris zu gehen». Sie änderte ihre Meinung während ihres Aufenthaltes nicht: Noch zwei Jahre später berichtete sie: «Bern ist traurig, extrem schweigsam, hat nur Kinos.»
Bern ist ein Grab
«Die in Bern verbrachten Jahre waren für Clarice Lispector schwierig”, sagt der Forscher Marco Antonio Notaroberto, “vor allem wegen der Abwesenheit von Familie und Freunden und auch, weil sie sich nicht an die Stadt anpassen mochte, die sie als eine Art Grab beschrieb.”
Doch in dieser Phase begann eine intensive Korrespondenz mit einer Vielzahl brasilianischer Schriftsteller und Intellektueller,. Man könnte auch sagen: Lispector flüchtet sich in Bern in die Sprache.
Marco Antonio Notaroberto sagt: «In den Briefen erzählt sie, dass es ihr nie gelungen sei, Europa zu einem Freund zu machen oder sich gut mit anderen zu verständigen. Und Bern war besonders schwierig. In den Briefen vermittelt sie ein Gefühl von wirklicher Traurigkeit und Entwurzelung».
Die neuen Umgebungen und die unterschiedlichen Mentalitäten machten das Leben der Clarice Lispector als «Nomadin zwischen den Kulturen und Welten» schwer. Dies sowohl im freiwilligen als auch dem politischen Exil. Denn die Familie war 1920 der antisemitischen Verfolgung durch die Ukraine entkommen und nach Brasilien geflüchtet. Clarice war damals erst wenige Monate alt.
Ihr Blick auf die Schweizer Gesellschaft war absolut unerbittlich. Nur gegenüber der Landschaft, die sie als «Insel» der Ruhe empfand, zeigte sie sich ab und zu versöhnlich.
«Meine Lieben,
(…)Ich kann [der Landschaft] nicht sagen, wie schön sie ist, ohne dass sie es mir mit einem unnachahmlichen Hauch von langweiliger Bescheidenheit sagt: ah oui. Wenn sie wüsste, dass ich das an sie gedacht habe, würde sie einen Monat lang weinen. Aber ich glaube ehrlich gesagt, es reicht zu lügen, zu lügen, wie ich es jede Sekunde dieses Lebens tue».
Sohn und Buch
Das spiegelt sich auch in ihren Werken nieder, insbesondere in dem Buch «Die belagerte Stadt», das 1948 in ihrer klaustrophobischen Berner Phase entstand. Im selben Jahr gebar sie ihren ersten Sohn.
Clarice Lispector wehrte sich auch als Mutter gegen die schweizerische Lebensweise. Ein Kindermädchen entliess sie, weil sie «von uns Schweigen wie in einem Krankenhauses verlangte”, wie sie sich in ihrem Brief vom 7. Oktober 1948 beklagt. Die “Nervensäge” hätte zudem einen “suisso-deutschen Charakter im schlimmsten Sinne” gehabt. “Und sie sprach mit allen Lieferanten und Nachbarn schlecht über uns, Es war eine Viper, die wir zu Hause hatten, ausserdem hysterisch.”
Entzifferung der Persönlichkeit
Notaroberto erklärt, dass die Briefe dazu beitragen würden, die geheimnisvolle Figur der unglücklichen Lispector zu entschlüsseln. Was sie in den Briefen von Bern durchlebt, ist fast eine Depression, eine Apathie, eine sehr grosse Sehnsucht wegzukommen. Aber wenn sie durch Europa reist, an andere Orte wie Italien, Paris oder sogar Lausanne, ist die Energie des Briefes anders, vielleicht war sie im Urlaub».
Notaroberto fährt fort: «Ich war schon vor meinen Forschungen ein Leser von Lispector, doch die Werke sind manchmal etwas luftdicht. Mit den Briefe beginnen die Romane mehr Sinn zu machen.”
David Eugster & Eduardo Simantob
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