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Das andere Gesicht der Nordkoreaner

Weltpremiere in Locarno: "Songs from the North" ist im Wettbewerb für den Goldenen Leoparden in der Kategorie 'Erstlingswerke'. pardolive.ch

Am Filmfestival Locarno hat die koreanische Regisseurin Soon-mi Yoo ihren Film "Songs from the North" als Weltpremiere gezeigt. Dabei werden Propagandabilder des Regimes mit heimlich gedrehten Aufnahmen verwoben. Gezeigt wird ein Volk, das tief in seinen Mythen und Liedern verwurzelt , aber auch in der Angst gegen die äusseren Feinde geeint ist.

Soon-mi Yoo ist in Südkorea aufgewachsen. Sie musste die Grenze nicht mit eigenen Augen sehen, um sie wahrzunehmen. Denn die 1953, am Ende des Bürgerkriegs erstellte und unüberwindbare Grenzanlage zwischen Nord- und Südkorea ist im Bewusstsein der Koreaner ständig präsent.

«Schon als kleines Kind hört man von Nordkorea, von der Teilung unseres Landes, von Einheit und Krieg. Diese Themen sind in den öffentlichen Debatten und persönlichen Gesprächen omnipräsent. Und doch verfügen wir letztlich nur über Bilder von einem Volk, über das man sich lustig macht, weil es ständig  der kommunistischen Propaganda ausgeliefert ist.»

Diese stereotypen Bilder wollte Soon-mi Yoo mit ihrem Film hinterfragen. Nachdem sie  10 Jahre zuvor in die USA ausgewandert war, reiste sie 2010 dank ihres amerikanischen Passes nach Nordkorea. Sie gab sich als Geschäftsfrau aus und überquerte an einem Wintertag die Grenze zwischen China und Nordkorea. Sie hatte auch einen kleinen Fotoapparat dabei.

Drei Reisen hat sie unternommen. Und aus dem Material, das sie gesammelt hat, ist der Film «Songs from the North» entstanden, der am Filmfestival von Locarno als Weltpremiere in der Sektion für Erstlingswerke (Cineasti di presente) gezeigt wurde.

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Die Lieder eines Landes  

Soon-mi Yoo war bei ihren Besuchen stets in der Obhut einer staatlichen Reiseführerin. In Nordkorea gibt es keine Bewegungsfreit, die Reiseroute ist genau festgelegt. «Das hat mich frustriert, denn ich wollte länger bleiben und in den Alltag dieses Landes eintauchen. Denn das muss man für einen Dokumentarfilm eigentlich machen.» Doch es ist unmöglich, mit den Leuten zu sprechen. Die Regierung hat solche Gespräche  verboten. Und die Menschen haben entsprechend Angst.

UNO prangert Verbrechen gegen die Menschlichkeit an

Die internationale Staatengemeinschaft und etliche Nichtregierungsorganisationen haben Nordkorea wiederholt vorgeworfen, Menschenrechte auf schwerwiegende Weise und systematisch zu verletzen.

Im Februar 2014 hat eine Untersuchungskommission der  Vereinten Nationen einen Bericht vorgelegt, der eine ganze Reihe von Menschenrechtsvergehen auflistet: Willkürliche Gefangennahmen und Folterungen, Verletzung des Rechts auf Ernährung, der Meinungs- und Bewegungsfreiheit, Entführungen und Diskriminierungen.

Die UNO ist der Meinung, dass diese Handlungen als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu klassifizieren sind. Die UNO fordert, dass der internationale Strafgerichtshof über diese Vorwürfe urteilt. Die Schweiz unterstützt diese Forderung.

Aufgrund dieser Umstände konnte die Regisseurin nur wenige  Bildaufnahmen machen. Diese Sequenzen spiegeln die Situation einer scheinbaren Normalität, aber auch von Melancholie. Soon-mi Yoo erlebte selbst die ganze Propaganda-Maschine des Regimes.  In den  Strassen, Schulen und Häusern ist über Lautsprecher ununterbrochen Volksmusik zu hören. Man kann dem nicht entkommen.

«Am Anfang war dies wie eine schallende Ohrfeige. Ich vertrug den ständigen Lärm überhaupt nicht. Doch je mehr ich mich auf diese Musik einliess, umso stärker vergass ich die Propaganda. Ich entdeckte die menschliche Seite eines mir fremden Volkes.» So entstand die Idee, das Land durch seine Lieder bekannt zu machen, statt davon auf klassische Weise zu erzählen.

Fiktion und Realität verweben sich auf emblematische Weise in diesem Dokumentarfilm, der zum Grossteil aus nordkoreanischen Archivbildern beseht, die auch offizielles Propagandamaterial für den Bau der Atombombe oder den ersten koreanischen Satelliten beinhalten.

Mehr als staatliche Propaganda

Mit ihrem Film «Songs from the North» wollte  Soon-mi Yoo versuchen, den Nordkoreanern ein anderes Gesicht zu geben. Sie wollte nicht Koreaner zeigen, die wie Zwangssoldaten – und unter Androhung der Todesstrafe – ihre Führer besingen oder ihren Tod beweinen. Sie wollte vielmehr das Bild einer authentischen Loyalität zeigen, die ihren Ursprung in der Verehrung der idealisierten Leader-Figur Kim-II-sung (1912-1994) hat, in dessen übernatürlichen Fähigkeiten, genauso wie im Konfuzianismus und der Väterverehrung. 

Es ist wohl kein Zufall, dass es Soon-mi Yoo gelungen ist, nur eine einzige Gefühlsregung  zu filmen.  Es handelt sich um einen Mann, dem beim Anhören  der Hymne für Kim II-sung eine Träne übers Gesicht läuft. Sein Gesicht wird dann verdeckt, die Kamera erlischt.

«Die Kunst – von der Musik bis zum Film- hat in Nordkorea eine magnetische  Kraft. Sie ist ein Grundbaustein, auf dem die gesamte Ideologie des Landes aufgebaut ist. Und für das Volk ist die Kunst ein Mittel zum Überleben.»

Nordkorea gilt als eines der abgeschottetsten Länder weltweit. Der Staat besitzt das Informationsmonopol und die USA sind der grosse Gegner. «Das Regime setzt das Volk mit Angst und Drohungen  unter Druck. Das Motto ‹Wir müssen geeint sein› wird den Menschen eingebleut, weil andernfalls die USA das Land auslöschen, Südkorea gewinne und am Ende alle stürben.»

Angesichts des Aufbaus einer solchen Drohkulisse werden laut Soon-mi Yoo Fragen zu Demokratie und Öffnung des Landes vollkommen sekundär. «In einem gewissen Sinn sind die Vereinigten Staaten und Nordkorea die besten Verbündeten», analysiert die Filmschaffende.

Viele Fragen, wenige Antworten

Die filmische Strategie von Soon-mi Yoo ist unproblematisch. Die Regisseurin versucht, die Nordkoreaner ohne Vorurteile zu betrachten. Aber mit diesem Blick wirft sie am Ende mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. Und es ist nicht immer einfach zu verstehen, wo die Fiktion aufhört und die Wirklichkeit beginnt.

Soon-mi Yoo nimmt keine Verteidigung des nordkoreanischen Regimes vor. Doch ihre Kritik wird ganz den Bildern und letztlich dem Bewusstsein der Zuschauer überlassen. Und wenn im Film die Frage aufkommt, ob es einen Weg gibt, um die beiden Koreas wiederzuvereinigen, hat sie nur eine Antwort: «Über eine andere USA.»

Am Ende ist es somit schwierig zu sagen, ob diese Reise von Soon-mi Yoo in Bezug auf ihre kritischen Anmerkungen und Zukunftsvisionen zu überzeugen vermag. Mit Sicherheit gelingt es ihr aber, ein anderes Licht auf einige der vergossenen Tränen eines Volkes zu werfen, das in seiner eigenen Muschel gefangen ist.   

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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