Das berühmteste Schweizer Kinderbuch nach Heidi
Das Kinderbuch "Schellen-Ursli" gibt es neben den Originalsprachen Rumantsch und Deutsch auch auf Englisch, Japanisch oder Afrikaans. Trotz – oder wegen – dessen Popularität hatte Alois Carigiet, der Illustrator des Buchs, Mühe, als ernsthafter Kunstmaler anerkannt zu werden.
«Hoch in den Bergen, weit von hier, da wohnt ein Büblein, so wie Ihr…» Der erste Satz von Schellen-Ursli (im rätoromanischen Original Uorsin) ist Generationen von Kindern bekannt. Doch waren es die unverwechselbaren Zeichnungen von Alois CarigietExterner Link, die das Buch während Jahrzehnten zum Favoriten der Gutenachtgeschichten machten: Ursli mit seinen schwarzen Haarlocken und dem spitzen Hut, auf der Suche nach der grössten Glocke, damit er in seinem Dorf den Umzug am Frühjahrsfest «Chalanda-Marz» anführen kann, mit dem im Kanton Graubünden traditionell der Winter ausgeläutet wird.
Seit der Veröffentlichung 1945, vor genau 70 Jahren, wurden mindestens eine Million Exemplare des Bilderbuchs verkauft. Und der Text von Autorin Selina Chönz wurde in neun Sprachen übersetzt.
Carigiet und Chönz produzierten weitere Kinderbücher wie «Flurina und das Wildvöglein» oder «Der grosse Schnee». Doch keines kam je an die Popularität von Schellen-Ursli heran. 1966 wurde Carigiet mit dem prestigeträchtigen Hans Christian Andersen Preis für Kinderbücher ausgezeichnet. Er starb 1985.
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Schellen-Ursli auf Rumantsch
Pünktlich zu seinem 30. Todestag und zum 70-Jahr-Jubiläum der Erstveröffentlichung kommt Schellen-Ursli nun ins Kino, in einem Film von Xavier KollerExterner Link. Und das Landesmuseum ZürichExterner Link widmet Carigiet und seiner berühmtesten Schöpfung eine Ausstellung.
Multitalent
«Carigiet ist nicht nur der Vater des Schellen-Ursli, und er ist nicht nur ein Kunstmaler. Er war auch ein ausgezeichneter Grafiker, Bühnenbildner und Mitbegründer des Cabaret Cornichon», sagt Pascale Meyer, Kuratorin der Ausstellung «Alois Carigiet. Kunst, Grafik & Schellen-Ursli»Externer Link, die noch bis Januar 2016 zu sehen ist.
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Über Schellen-Ursli hinaus
Carigiet wurde 1902 in Trun in der Bündner Surselva geboren. Er war das siebte von elf Kindern und hatte nach eigenen Schilderungen eine unbeschwerte Kindheit in den Bergen dieses ländlichen und damals noch armen Kantons, bevor seine Familie in die Kantonshauptstadt Chur zog. Daheim wurde Rumantsch gesprochen, die vierte Schweizer Landessprache.
Er machte eine Lehre als Dekorationsmaler, brachte sich aber selber das Malen bei und war höchst produktiv als Grafiker. So kamen viele seiner Plakate in der Tourismuswerbung zum Einsatz, und er durfte das offizielle Poster der Landesausstellung 1939 (Landi) entwerfen. «Sein Werk zeigt Geist und Humor. Er war einer der grössten Schweizer Plakatkünstler», so Meyer.
Als Bühnenbildner war er unter anderem in Zürich für das legendäre Cabaret CornichonExterner Link tätig, das von 1934 bis 1951 existierte und zu deren Mitgliedern auch sein Bruder ZarliExterner Link gehörte, damals ein bekannter Schauspieler.
Doch sein Herz gehörte der Kunst, und deshalb zog sich Carigiet 1939 in die Bündner Berge zurück, um sich ganz auf die Malerei zu konzentrieren.
Grosse Kunst
Laut Stephan Kunz, Direktor des Bündner KunstmuseumsExterner Link in Chur, das der Zürcher Ausstellung mehrere Frühwerke ausgeliehen hat, war Carigiet als ein wichtiger Bündner Künstler bekannt. Ein Image, das dieser kultiviert habe. «Doch er erlangte eine Bedeutung weit über die Kantonsgrenzen hinaus.»
Carigiet entwickelte und verbesserte einen unverwechselbaren Stil, benutzte Motive aus seiner Umgebung und setzte diese in dynamischen und kräftigen Kompositionen um. Der Künstler wurde oft in den Bergen gesehen, den Zeichenblock in der Hand. Von der «modernen» Fotografie hielt der Künstler nicht viel, wie der folgende Video-Ausschnitt zeigt.
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Warum Skizzen so wichtig sind
Für seine Nachbarn sei Carigiet manchmal ein Buch mit sieben Siegeln gewesen, erzählt Kunz. «Er machte etwas weit weg von deren Realität: Sie waren Bauern, Arbeiter, einfache Leute, die er respektierte. Sie fragten ihn immer, warum er die Kühe rot male. Er antwortete: ‹Ich bin ein Künstler und ein wenig verrückt.› Doch sie respektierten ihn immer.»
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Carigiet – das Frühwerk
Den grossen Durchbruch als Kunstmaler schaffte Carigiet 1951 mit einem riesigen Wandgemälde in Zürich. Doch seine Popularität – als Illustrator und durch die Massenproduktion seiner Plakatarbeiten – habe seinem Ruf als Künstler geschadet, sagt Kunz.
Wie auch seine Vorliebe für Heimatstil-Themen. So war es kein Zufall, dass das Schellen-Ursli-Buch, das in einfachere Zeiten zurückblickt, in der Nachkriegszeit publiziert wurde. In einer Zeit, in der man sich wieder nach traditionelleren Werten sehnte.
«Wenn man aber sein Werk betrachtet, als Künstler, als Maler, sieht man andere Qualitäten. Er wurde ein guter Kunstmaler», sagt Kunz. Er nennt dabei namentlich die gekonnte Nutzung von Perspektive und Bildraum.
Urslis Reiz
Eigentlich wollte Carigiet das Kinderbuch gar nicht illustrieren, weil er sich auf seine Malerei konzentrieren wollte. Während langer Zeit rang er mit der Figur des Ursli. Erst fünf Jahre nach seiner Zusage wurde das Buch publiziert.
Der Schellen-Ursli war ein sofortiger Erfolg. Das Buch wurde gleichzeitig auf Deutsch und in zwei rätoromanischen Idiomen herausgegeben. Heute gelte es als Kinderbuch-Klassiker, sagt Ronny Förster vom Verlag Orell FüssliExterner Link, der seit 1971 die Rechte am Buch hält.
Heute ist es in neun Sprachen erhältlich und soll bald auch auf Farsi publiziert werden. Touristen kauften oft die englische Version, weil sie ein Souvenir einer idyllischen Schweiz nach Hause nehmen möchten, sagt Förster.
Besonders in Japan ist das Buch ein grosser Erfolg: Seit 1973 konnte der japanische Verlag über 42’000 Exemplare verkaufen. «Das mag nach etwas wenig aussehen, doch der Verleger betont, dass sich kein anderes Bilderbuch auf einem derart stabilen und hohen Niveau verkaufe», so Förster.
Ursli und die anderen Bücher – auch Skizzen des unveröffentlichten Bilderbuchs «Krickel» über eine junge Bergziege sind in Zürich erstmals zu sehen – mögen die anderen Talente Carigiets überstrahlt haben, doch diese Arbeit machte ihm grossen Spass. Auch als er keine Kinderbücher mehr produzierte, freute er sich, wenn er hörte, dass Kinder mit Schellen-Ursli unter dem Kopfkissen schliefen.
Für ihn sei wichtig, schrieb er einmal, den Kindern, besonders jenen in den «grauen Strassen und Häusern der Stadt», etwas vom «Licht und Funkeln einer Kindheit in den Bergen» mitzugeben.
Carigiet und Rumantsch
Im Dorf, wo Alois Carigiet aufgewachsen ist, ist Rumantsch oder Rätoromanisch weit verbreitet. Die Sprache hat sich aus dem Lateinischen entwickelt und wird besonders im Kanton Graubünden gesprochen. Heute beherrschen rund 60’000 Menschen Rumantsch, seit 1938 die vierte Landessprache der Schweiz.
Laut dem Romanisten und Kulturwissenschaftler Rico Valär war Carigiet kein Aktivist der rätoromanischen Sprache, doch habe er Beziehungen zur romanischen Kultur und zu Intellektuellen gepflegt. «Seine Werke gaben dem Rumantsch manchmal ein Bild, sie beeinflussten die Wahrnehmung der Rätoromanen von sich selber und durch andere», sagt er.
Schellen-Ursli habe einen grossen Beitrag dazu geleistet, doch Carigiet habe auch viele Bücher für Erwachsene illustriert, welche die Verbindung zwischen dem Illustrator und der romanischen Kultur verstärkt hätten.
Rumantsch habe für Carigiet viel mit seiner Familie zu tun gehabt: «Er sagte, als er die Originalversion von Schellen-Ursli auf Rumantsch gelesen habe, hätte er viel an seine Kindheit und die schöne Zeit denken müssen, die er damals gehabt habe», sagt Valär.
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