Das duale Deutschbild der Schweizer
Die Schweiz hat im Zweiten Weltkrieg Deutschland zwar Widerstand geleistet, aber auch kollaboriert. Aus Sympathie, Eigennutz oder zur Selbstverteidigung? Darüber streiten sich Schweizer und deutsche Blogger auf swissinfo. Historiker Georg Kreis erläutert.
Deutsche Blogger werfen der Schweiz ein «gewisses rassistisches Gedankengut» vor. Nicht aus Sympathie, sondern um eine Besetzung abzuwenden, habe die Schweiz mit Nazi-Deutschland kollaboriert, kontert eine Schweizerin. Als «Hitlers Banker» hätten die Schweizer zur Verlängerung des Krieges beigetragen, meint ein Deutscher. Mit solchen Behauptungen wollten die Deutschen lediglich «einen Teil ihrer Schuld am Krieg und Holocaust abwälzen», tönt es zurück.
Seit die Schweiz einen starken Anstieg an deutschen Arbeitskräften erlebt, ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Schweizern immer wieder mal Thema in den Medien. Vorurteile und Klischees machen die Runde.
Drohung dort, Empörung hier
Und wenn der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück im Steuerstreit mit dem kleinen Nachbarn die «Peitsche schwingt» oder SPD-Chef Franz Müntefering im Kampf gegen Steueroasen davon spricht, dass man «früher Soldaten hingeschickt hätte», reagieren viele Schweizer empört. Solches «Säbelrasseln» weckt offenbar Erinnerungen an die 30er-Jahre, an die Nazizeit – und dies mehr als 60 Jahre nach Ende des Krieges.
Georg Kreis, Leiter des Europainstituts der Universität Basel und Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), ist es bei dieser Diskussion sehr unwohl. «Ich empfinde sie als grob und primitiv.» Er bedauert, dass das «Nazivokabular prominent und in grober Weise gepflegt wird».
Die Deutschen müssten für sich selber sagen, dass sie mittragen an der Schuld ihrer früheren Generation. «Dasselbe sollen, wenn man schon in nationalen Kategorien denkt, auch die Schweizer für sich tun», betont Georg Kreis.
Die Geschichte ist wesentlich komplizierter
Laut dem Historiker haben die Medien das Problem «Deutsche-Schweizer» zwar nicht erfunden, aber doch «relativ schnell aufgegriffen». Offenbar bestehe eine gewisse «ängstliche Wahrnehmung gegenüber dieser Einwanderung».
Der Zweite Weltkrieg als Thema eigne sich dabei als «Munition». Die Sache selbst sei jedoch wesentlich komplizierter. Um das Verhältnis zwischen Deutschen und Schweizern zu identifizieren, müsse man weiter zurückgreifen, bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Damals herrschte laut Kreis in der Deutschschweiz eine enorme Deutschfreundlichkeit, eine Bewunderung für das Land. «In der Zwischenkriegszeit war das Verhältnis dann eher problematisch, ein duales Deutschlandbild entstand.» Die Sympathie, die auch in der Nazizeit in der Schweiz zum Teil bestand, erklärt sich der Historiker mit dieser Bewunderung aus früheren Zeiten.
Die Schweiz gibt es nicht
Die Schweiz hat im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland zusammengearbeitet. Das ist erwiesen. «Sie hat sich die Nachbarschaft zu Deutschland nicht ausgesucht und musste mit diesem Nachbarn über die Runden kommen.»
Trotz des 10’000-seitigen Bergier-Berichts existiert gemäss Georg Kreis keine historische Forschung zur Frage: Wo liegt die Schnittstelle zwischen notwendiger und freiwilliger Kooperation? «Vieles in der Geschichte ist noch nicht aufgearbeitet. Diese Debatte im swissinfo-Blog zeigt, dass das noch geschehen müsste.»
Die Schweiz gebe es nicht, nur einzelne Akteure. So hätten sich die Kantone im Bezug auf Flüchtlinge unterschiedlich verhalten. Auch in der Wirtschaft seien die Unternehmen nicht alle gleich kooperativ gewesen. Die Swissair habe zum Beispiel die Linie nach München aufrechterhalten wollen und deshalb Arier-Bestimmungen respektiert.
Und die Auslandschweizer seien gegenüber dem Dritten Reich mehrheitlich positiv eingestellt gewesen. «Sie wollten keine Scherereien und zeigten gegenüber Schweizer Medien, die sich gegenüber Deutschland abgrenzen wollten, ein geringes Verständnis.» Zudem machten Hunderte von Schweizern freiwillig bei der Deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS mit. «Man sollte die Restschweiz für diese Freiwilligen jedoch nicht in Geiselhaft nehmen.»
Zwischen Sympathie und Abscheu
Laut Kreis war in der Schweiz eine gewisse Anfälligkeit für die Idee des Nationalsozialismus vorhanden. «Es gab Sympathie, aber auch Abscheu und Degout gegenüber diesem vulgären Nationalsozialismus, diese Haltung verkörperte etwa Bundesrat Philipp Etter.»
Letztlich seien die konservativen Kräfte im Land aber resistent geblieben, so Kreis. Seine These ist, dass ein grosser Teil der Deutschschweiz mit der Ideologie des Dritten Reiches noch mehr sympathisiert hätte, wenn dies nicht das Ende der Unabhängigkeit der Schweiz bedeutet hätte.
Massenideologien wie Nationalismus und Kommunismus setzten voraus, dass es eine Masse gebe, sagt der Historiker. «Die gab es in der Schweiz nicht. Aber ist das ein Verdienst der Schweiz? Oder liegt das in der Strukturierung des Landes mit seinen Tälern und Talschaften? Und was wäre passiert, wenn die Schweiz als Territorium in den Niederlanden gelegen wäre?»
swissinfo, Gaby Ochsenbein
Ende August 2008 lebten über 1,6 Millionen Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Das sind über 21% der Bevölkerung.
Gegen 250’000 oder rund 14% davon sind deutsche Staatsangehörige.
Damit sind die Deutschen nach den Italienern die zweitgrösste Ausländergruppe.
Die Schweiz ist in den letzten Jahren zum beliebtesten Auswanderungsziel für Deutsche geworden.
Ein Grossteil der in der Schweiz wohnhaften Deutschen sind qut qualifizerte Arbeitskräfte, viele sind Kaderleute oder Akademiker.
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