Das Erbe von Jean-Luc Godard liegt in seinen Händen
Fabrice Aragno war in den letzten zwei Jahrzehnten der wichtigste Mitstreiter von Jean-Luc Godard. Mit SWI swissinfo.ch spricht der Schweizer Filmemacher über die Entstehung von Godards letzten Filmen und wie es für ihn ist, nach dem Tod des Regisseurs Filme zu drehen.
Mehr als ein Jahr vor seinem Tod durch assistierten Suizid im September 2022 gab Yves Saint-Laurent bei Jean-Luc Godard einen Kurzfilm in Auftrag. Das französische Modehaus wollte sich mit einem neuen Werk des berühmtesten Vertreters der Nouvelle Vague schmücken.
Das Ergebnis von Godards Arbeit war der rätselhafte Kurzfilm Drôles de guerres, der auf einer Idee basierte, die schon lange in seinem Kopf herumgeisterte. Er reichte das Werk im Frühjahr 2021 bei Saint-Laurent ein, doch sollte es noch zwei Jahre dauern, bis es veröffentlicht wurde.
«Ich hoffe, sie haben ihn [den Film] nicht zurückgehalten, weil sie mit Godards Tod rechneten und davon profitieren wollten, marketingtechnisch», sagt Fabrice Aragno, Godards wichtigster Mitstreiter der letzten zwanzig Jahre gegenüber SWI swissinfo.ch.
Was auch immer ihre Beweggründe gewesen sein mögen, Godard starb kurz darauf. Nach langer Krankheit hatte er sich in eine Sterbehilfe-Klinik in Rolle in der Schweiz einweisen lassen. Der Film wurde im Mai 2023 bei den Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt.
Mehr
Godard wählte den assistierten Suizid – diese Möglichkeit haben nicht alle
Auf der Leinwand wird das 20-minütige Werk als «Film annonce du film» («Trailer zum Film») angepriesen, eine Art spekulativer Vorgeschmack auf ein längeres Werk, das Godard in Zukunft drehen wollte.
Aragno bringt seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass Saint Laurent den Titel geändert hat. Er heisst nun nicht mehr «Trailer zum Film», sondern «Trailer zum Film, der nie existieren wird». Für Aragno ist das falsch: «Das ist der Film, er existiert … das ergibt für mich keinen Sinn.»
Mehr als eine technische Hand
Diese Art von Behauptung ist typisch für den 54-jährigen Aragno, der 20 Jahre lang mit Godard zusammengearbeitet und ihn in vielerlei Hinsicht «beschützt» hat – zunächst als Location Manager, dann als technischer Experte und schliesslich als echter kreativer Mitarbeiter.
Sein Einfallsreichtum und seine Neugierde im Umgang mit der Kamera waren für Godard unentbehrlich. Im Lauf der Zeit wurde ihre professionelle Zusammenarbeit immer intensiver, sei es für den Film socialisme (2010), bei dem er Aragno mit zahlreichen Aufnahmen betraute, ohne dass Godard selbst anwesend war, oder für Adieu au langage (2014), ein 3D-Projekt, das durch den Bau eines innovativen Rigs für die dreidimensionale Aufnahme mit zwei Kameras ermöglicht wurde.
Angesichts seiner Erfahrung im Puppentheater stellt sich die Frage, was Aragno am Kino, insbesondere an seiner technischen Seite, gereizt hat. «Ich glaube, ich wollte mich ohne Worte ausdrücken», sagt er. «Dafür ist das Kino perfekt. Und eigentlich ist das Kinohandwerk sehr einfach, wie ich an der Filmschule in der Schweiz gelernt habe. Die Grundlagen kann man in zwei Tagen lernen. Aber damals hat man mir nur gesagt, ich solle lernen und die Regeln befolgen, was ich offensichtlich nicht verinnerlicht habe.»
Von Drôles de guerres zu Scénarios
Vor seinem Tod initiierte Godard Scénario, einen Spielfilm, der auf der Idee von Standbildern im Gegensatz zu bewegten Bildern aufbaut, die er zusammen mit Aragno in Film annonce du film… entwickelt hatte. «Nachdem er Yves Saint Laurent den film d’annonce vorgelegt hatte, wollte Jean-Luc plötzlich etwas anderes machen – er wollte sich von Phony Wars entfernen», sagt Aragno. «Im Mai oder Juni 2022 begannen wir, einige der Ideen für Scénario zu besprechen, einen weiteren Film, der aus zwei Teilen bestehen sollte, einem über DNA und einem über MRI. Er begann, ein paar Bilder zu sammeln, sprach mit uns über Bilder und darüber, wie er aussehen sollte.»
Für einige Monate ging die Arbeit in diese Richtung weiter. «Doch der Sommer war hart», erinnert sich Aragno. «Ich brachte Godard zwei- oder dreimal ins Krankenhaus, wo er normalerweise jeweils fünf Tage blieb. Schliesslich beschloss er, … wegzugehen.» Er seufzt, als ihm dieser Euphemismus unbewusst rausrutscht. «Er bestand sogar dann noch darauf, dass wir Scénario machen müssten. Er wollte [Mitra Farhani, der Produzentin] keinen Ärger machen, indem er keinen Film ablieferte, wie im Vertrag vorgesehen.»
Godard sollte die Endfassung von Scénarios (jetzt im Plural) nie zu Gesicht bekommen. «Fünf Tage vor seinem Tod, am Montag, gab er mir die Anweisungen für die erste Hälfte des Films», erinnert sich Aragno. «Am Tag bevor er starb, gab er mir die Anweisungen für den zweiten Teil. Und das Letzte, was er an diesem Tag tat, war, sich selbst für die letzte Szene des Films zu filmen.»
«Auf jeden Fall waren seine letzten Anweisungen so präzise. Er hatte den Film bereits im Kopf, fertig geschnitten.» In Aragnos Augen liegt eine gewisse Melancholie, als er darüber spricht, wie er die letzten Anweisungen zur Bearbeitung durch den Meister erhielt. «Nach 15 Jahren, in denen ich Godard-Filme nach Cannes gebracht habe, war dies der letzte. Das letzte Mal, dass ich einen neuen Godard-Film dorthin gebracht habe. Ein punto finale.»
Ein autobiografisches Ende
«Bemerkenswert ist für mich, dass der Film vermittelt, was er kurz vor seinem Tod gedacht hat», sagt er, als wolle er den Film vorsorglich verteidigen. In diesem letzten Sketch sehen wir einen Ausschnitt aus Roberto Rossellinis Rom, offene Stadt (1945), in dem Anna Magnani auf der Strasse von deutschen Soldaten erschossen wird.
«Als wir [gemäss seinen Anweisungen] den Film schnitten, dachte ich mir nichts dabei. Später erfuhr ich, dass auch seine Mutter mitten auf der Strasse gestorben war, 1954 in Genf. Er war in Paris und konnte nicht zu ihr kommen. Er ging nicht zur Beerdigung. Aber in seinen letzten Momenten setzte er dieses Bild dort ein, sein letztes – eine Frau, die auf der Strasse stirbt, und ihr Kind, das auf sie zuläuft und weinend nach seiner «Mama» ruft. Das ist eine seiner letzten Gesten», erklärt Aragno.
«Gleichzeitig habe ich, wie gewünscht, einen Ausschnitt aus [seinem Film] Bande à part (1964) in die Timeline eingefügt; ich höre die Stimme von Jean-Luc, einem jüngeren Jean-Luc: ‹Der letzte Gedanke, den Odile hatte…›. Und jetzt wird mir klar, dass seine Mutter Odile hiess. Diese letzte Montage, die er gemacht hat und die er selbst nie gesehen hat, war autobiografisch: über sein Kino, sein Leben, seine eigenen Misserfolge.»
«Drei Tage bevor er uns verliess, hatte er in aller Ruhe auf ein A4-Blatt mit einem blauen Kugelschreiber jedes Bild gezeichnet, jede Anweisung geschrieben und es mir so gegeben.»
Filmemachen ohne JLG
Vor diesem Hintergrund frage ich Aragno schliesslich nach seinem eigenen Langzeitprojekt «Le Lac», an dem er seit einigen Jahren arbeitet. «Es ist dem Erfolg von «Livre d’image» zu verdanken, den unser Kollektiv [Casa Azul] produziert hat. Das hilft uns, diesen Film zu finanzieren. Ich widme ihn Jean-Luc, dem mein Kurzfilm [Lakeside Suite] als Vorbereitung für diesen Film sehr gefallen hat, und Freddy Buache (dem Schweizer Filmkritiker), der mich dazu gedrängt hat. Ich habe diesen Film für diese beiden Männer gemacht.»
In Abwesenheit von Jean-Luc Godard wandte sich Aragno der Koproduktion einer anderen Art von Film zu. Beim diesjährigen Filmfestival von Locarno war ich überrascht, Aragnos Namen als Produzent des portugiesischen Wettbewerbsfilms Fogo do Vento von Marta Mateus auf der Leinwand zu sehen.
«Eines Tages kaufte [Mateus] ein paar Bücher, die wir mit Godard gemacht hatten. Dann sah ich einen Kurzfilm [Farpões, baldios, 2017] auf MUBI, der mir sehr gefiel. Und ich sehe den Namen im Abspann … Marta Mateus, Marta Mateus … Dann hat es Klick gemacht: Das ist der gleiche Name wie der, der Frau, die die Bestellung aufgegeben hat!». Daraus entwickelte sich eine Freundschaft.
Mateus erwähnte, wie schwierig es sei, in Portugal Geld für Filme zu beschaffen. «Sie erzählt mir, dass sie an einem Spielfilm arbeitet. Ich sagte: ‹Okay, lass uns zusammen produzieren!› Es ist wunderschön, Filme in Koproduktion zu machen. Wenn man nur in der Schweiz Filme macht, bleibt man in etwas Kleinem, Geschlossenem, Dummen stecken.» Er schnaubt verächtlich.
«Koproduzieren hingegen bedeutet, dass man die Welt verstehen kann und anfängt, eine Sensibilität für andere Dinge zu entwickeln,» ergänzt Aragno.
«Trotzdem haben wir Fogo do Vento ohne Bundesgelder gemacht. Das Bundesamt für Kultur ist von dieser Art Koproduktion nicht begeistert. Man bekommt nur Punkte, wenn es etwas mit der Schweiz zu tun hat. Also haben wir uns an Cinéforum und das Westschweizer Fernsehen gewandt. Und dann mit unseren eigenen Händen. Ich liebe es, Menschen dazu zu drängen, Filme zu machen, wenn sie können. ‚Bitte, mach es einfach. Warte nicht. Hier ist eine Kamera!‘»
Wie ist es, wieder an eigenen Projekten zu arbeiten? «Nun, ich kann jetzt sagen, dass ich mehr Zeit habe. 20 Jahre lang hatte Jean-Luc für mich Priorität. Jetzt habe ich Priorität. Aber um ehrlich zu sein, war es schön, etwas anderes als Priorität zu haben.»
Nach der Vorführung beim New York Film Festival werden Godards letzte Filme auf eine kleine Nordamerika-Tournee gehen und in der Cinématheque von Montréal und Vancouver zu sehen sein. «Vielleicht habe ich dann noch ein paar Tage Zeit, um Le Lac auf meinem Laptop zu schneiden, bevor ich nach Wien fahre, um die Filme mit Adieu au langage zu zeigen …» Die Arbeit geht weiter.
Editiert von Virginie Mangin/ ds / Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger / me
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch