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Das Ethnokino-Filmfestival fördert von Bern aus internationales Kino – auch in Mexiko

Ethnokino in Bern: Auf dem Bild sind Cihan Elci, Derin Emre, Shubham Sharma, Aymane Filali, Annika Minsch und Eda Elif Tibet
Die dritte Ausgabe des Ethnokino-Festivals in Bern. Auf dem Foto sind von links nach rechts die Filmemacher:innen Cihan Elci, Derin Emre, Shubham Sharma, Aymane Filali, Annika Minsch und Eda Elif Tibet. zVg

Die Anthropologin Eda Elif Tibet hat Ethnokino ins Leben gerufen. Ein Filmfestival, das Filme zeigt und Filmschaffende unterstützt.

Luna träumt von fremden Gestalten, die ausgelassen an einem Fluss im Amazonasgebiet feiern.

Bis starker Rauch einsetzt. Äste verbrennen, Wurzeln werden zu Asche. «Du hast die Geister des Waldes gesehen», erklärt ihre Grossmutter den Traum, «Pflanzen, Tiere und Menschen lebten im Einklang, bevor die Rodungen begannen. Sie nahmen, was der Wald ihnen gab und zogen dann weiter, damit er sich erholen kann.»

Der Kurzfilm «An Amazon’s Night’s dream» des peruanischen Regisseurs Diego Sarmiento ist beliebt beim Publikum des Festivals Ethnokino, das 2020 von der Anthropologin Eda Elif Tibet in Bern ins Leben gerufen wurde.

Doch es ist nicht der einzige Film, der sich dem diesjährigen Festivalmotto «Ernte» annimmt, der begeistert. Da gibt es den Schweizer Kurzfilm «One Earth, One Soil», in dem sich eine künstliche Intelligenz in einer fiktiver Welt darin versucht, Menschen beim Ansäen anzuleiten. Da gibt es den jordanischen Spielfilm «A Stranger’s Case», in dem syrische Flüchtlinge ihren Schleppern ausgesetzt sind.

Ethnokino in Berlin, Marrakesch und Mexiko-Stadt

«Ernten kann man Nahrungsmittel, aber auch anderes wie Hoffnung», sagt Eda Elif Tibet nach einer Vorführung, die sie selbst an Laptop und Projektor geleitet hat. Für sie, selbst preisgekrönte Filmemacherin, eine gewohnte Übung.

Und doch wieder nicht. Denn zum ersten Mal umringt sie mexikanisches Publikum. Es sitzt nicht in einem Kino, sondern unter einer Kuppel, gemacht aus Bambusstengeln. Teil eines Parks, in dem mitten in der 20-Millionen-Stadt Gemüse angebaut wird.

Eda Elif Tibet in Mexiko
Eda Elif Tibet im Kulturzentrum Huerto Roma Verde in Mexiko-Stadt. Flurina Duenki

Seit dem Debüt von Ethnokino im Kulturzentrum Reitschule in Bern hat das Filmfestival mehrere Grenzen überschritten. Es wird in Berlin ausgetragen, in Marrakesch und Chile. «Vielen Branchenleuten gefällt unser Konzept und sie holten das Festival in ihr Land», sagt Tibet.

Dieses Jahr hat sie es geschafft, persönlich zur Austragung nach Mexiko-Stadt zu reisen. Hier braucht sie nicht weit zu gehen, um im Filmelement zu sein. Beim Schlendern im populären Quartier La Roma trifft sie an einer Strassenecke auf ein Filmteam, das die Fassade eines edlen Bourgeoisie-Hauses ausleuchtet. Das ist alltäglich in dieser Stadt, wo viele mexikanische und US-amerikanische Film- und Fernsehproduktionen gedreht werden. Entsprechend viele Filmstudentinnen und -studenten sitzen in der Ethnokino-Vorführung. «Wie kann ich meinen Beitrag einsenden?», fragt eine von ihnen. Mexiko bildet viele Filmtalente aus. Woran es, wie so oft, fehlt, ist an Finanzierung.

Eda Elif Tibet und ihre Auseinandersetzung mit Heimat

Tibet war Ende Zwanzig, als sie als Doktorandin an die Universität Bern kam. Als geborene Türkin hat sie die Gabe, Schweizer Eigenheiten und die Marke Schweiz mit einem unabhängigen Blick von aussen zu betrachten. Seit neun Jahren arbeitet die 37-Jährige in der Schweiz, seit Abschluss ihres Doktorats als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Wyss Academy for Nature.

Die Stationen davor sind eine Tour d’Europe. Aufgewachsen ist sie in Spanien und Portugal. Später folgte das Wirtschaftsstudium in Istanbul, dann der Richtungswechsel zur Anthropologie inklusive Fellowship in Oxford. «Ich glaube nicht mehr, dass ich an einen geographischen Ort gehöre», sagt sie, deren neuster Film «Home for Humanity» sich mit alternativen Heimatsdefinitionen beschäftigt. «Ich fühle mich dort wohl, wo ich enge Freundschaften habe», lautet ihre persönliche Definition.

In ihrem Debütfilm setzte sie sich mit dem durch den Massentourismus verschluckten Kappadokien auseinander, der Heimat ihrer Grosseltern. «Ich war neu und unterfahren und doch sagte mir ein wichtiger türkischer TV-Kanal zu», sagt sie. «Damals verstand ich das Wichtigste beim Filmemachen: Ich brauche keinen Namen, kein teures Equipment, sondern nur eine gute Geschichte.»

Ethnokino unterstützt die Filmemacher:innen

Der Verein Ethnokino ist eng mit Tibets unabhängiger Forschungsinitiative «Animating the Commons» verbunden. Im Rahmen davon untersucht sie global schwindende öffentliche Plätze, Wälder und Landstücke. Die Mottos jedes Festivaljahres (bisher «Asymmetrien», «Herkunft» und «Resilient») sind immer an die Forschung geknüpft.

Die Filmeingaben müssen das jeweilige Thema behandeln und dies in einem neuen Ansatz. Dabei «soll sich nicht die bekannte Erzählsicht der westlichen Welt» wiederholen, wie Tibet sagt. Auch sollen unübliche Protagonistinnen und Protagonisten wie indigene Völker porträtiert werden, die in westlichen Filmen bisher eher als Vergleichsmodelle unterer Stufe dienten.

Wenn Tibets Team das Potenzial einer Filmidee erkennt, aber diese mangels Finanzen nicht umgesetzt werden kann, geht das Team Kulturförderer an. Zudem unterstützt es die Nachwuchsfilmenden bei Produktion und Schnitt mit dem dafür gegründeten «Impact Lab». Da die Filme nicht miteinander im Wettbewerb stehen, ist dies unbedenklich. «Wir sind kein Festival für die Egos von Filmemachenden», sagt Tibet, «sondern eines, das Visionärinnen und Visionären ermöglicht, ihre Botschaft zu verbreiten.»

«Könnten kenianische Filmstudierende euch ihren Film zum Schneiden senden?»

Dass das Festival Ethnokino schnell rund um den Globus gezeigt worden ist, hat es der Natur seiner Gründerin zu verdanken. Offen und authentisch ist sie. Bei einer neuen Begegnung überlegt sie sofort, mit wem sie die Person vernetzen könnte. «Könnten kenianische Filmstudierende euch ihren Film zum Schneiden senden?», fragt sie die mexikanischen Professoren, die sie durch ihre Filmfakultät führen.

Eda Elif Tibet im Tonstudio in Mexiko
Bei der Führung durch den Tonraum der Universidad Iberoamericana kommen Eda Elif Tibet Networkingideen. Flurina Duenki

Ihre Mission ist klar: Wer mit Filmen etwas zum Positiven verändern will, soll durch das Festival weitere Chancen bekommen. Personen aus Tibets breiten Netzwerk, die solche Chancen bieten könnten, werden zum Festival eingeladen. Immer wieder greift sie zum Smartphone, um für jemanden einen nützlichen Kontakt zu suchen. Wenn der letzte Vorhang des Festivals fällt, soll das erst der Anfang eines Prozesses sein.

Eine gute Portion Schweiz in die Filme

In manch einen Festivalfilm injiziert Tibet so eine gute Portion Schweiz in manch einen Festivalsfilm injiziert. «Es ist ein Schweizer Beitrag, der einen grossen Effekt erzielen kann», sagt Tibet. «Wer weiss, wie die Karriere der Person hinter dem Film danach verläuft und welcher Publikumsgrösse sie ihre Filme künftig zeigen kann.»

Das ist kein Wunschdenken. Diesen Sommer hat «An Amazon’s Night’s Dream» den Schweizer Kurzfilmpreis «ImagiNATION» gewonnen. Auch der Faktor Schweiz als Qualitätssiegel sei entscheidend für Ethnokino. «Wir bekommen sehr viele gute Eingaben, da der Schweiz der Ruf von Qualität vorauseilt, können wir aus Hunderten Filmideen wählen», sagt Tibet. «Mit unseren internationalen Austragungsorten tragen wir die Schweiz wiederum in die Welt.»

Die anderen Geschichten

Die Film- und Fernsehproduktionen, an denen man in Mexiko-Stadt Tag für Tag vorbeiläuft, werden von viel Personal, teurer Technik und mehreren Transportern begleitet. Sie zahlen sogar Personal dafür, jeden freigewordenen Parkplatz abzusperren. Die meisten dieser Filme vermitteln bekannte Rollenbilder und Weltanschauungen und folgen üblichen Erzählmustern.

Unter der Bambuskuppel von Ethnokino kommen hingegen Filmschaffende zusammen, die andere Geschichten zeigen wollen.

Editiert von David Eugster und Benjamin von Wyl

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