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Das Filmfestival von Locarno war ein grosser Erfolg, aber wie geht es jetzt weiter?

Vier Personen mit einem Transparent Woman Life Freedom beim Filmfest Locarno
Im Namen des Künstlers: Alec Barth (Videokünstler), Lea Luttenberger, die Produzentin Sina Ataeian Dena und die iranische Schauspielerin Dorna Dibaj (v.l.n.r.) tragen ein Protesttransparent während eines Fototermins für den Film "Critical Zone" des iranischen Regisseurs Ali Ahmadzadeh, der am 76. Filmfestival von Locarno mit dem Goldenen Leoparden für den besten Film ausgezeichnet wurde. Ahmadzadeh ist im Iran geächtet und durfte nicht am Festival teilnehmen. © Keystone / Jean-christophe Bott

Das letzte Filmfestival in Locarno hat die Erwartungen übertroffen. Wie die nächste Ausgabe aussehen wird, hängt nun davon ab, wohin die neue Präsidentin Maja Hoffmann das Festival steuert.

Es gibt viele Möglichkeiten, den Erfolg oder Misserfolg eines Filmfestivals zu messen. Zahlen können ein Bild von der finanziellen Gesundheit, dem organisatorischen Können, der Bedeutung für die Filmindustrie und der Publikumswirksamkeit vermitteln.

Aber auch eher subjektive Eindrücke, die persönliche Wahrnehmung der Qualität des Programms, das Feedbackd der Filmpresse, geben Aufschluss über den Stellenwert eines Festivals.

Wie SWI swissinfo während der 10 Festivaltage feststellte, hat Locarno praktisch alle Erwartungen erfüllt.

Zunächst die Zahlen: In den Kinosälen wurden 146’930 auf der Pizza Grande 60’400 Besucher:innen gezählt , was einem Zuwachs von 14,3% gegenüber 2022 entspricht. Die Zahl der akkreditierten Fachleute stieg um 31% auf 4’639, darunter waren 1’530 Vertreter:innen der Filmbranche und 783 Journalist:innen und Fotograf:innen.

Parallel zum eigentlichen Festival wurden in den Freizeit- und Begegnungsräumen mit Musik-, Kunst- und Unterhaltungsprogrammen 105’000 Besucher:innen gezählt, was einer Steigerung von 62% gegenüber der vorherigen Ausgabe entspricht.

Wenn man diese Zahlen seiht, konnte das Festival die Rückschläge der Covid-19-Pandemie eindeutig überwinden. Die Ausgabe 2020 war noch abgesagt worden,jene von 2021 richtete sich aufgrund der Reisebeschränkungen hauptsächlich an ein lokales Publikum, und im letzten Jahr wurden immer noch strenge Massnahmen ergriffen und zahlreiche Fälle von Covid-Infektionen verzeichnet.

Der künstlerische Leiter Giona A. Nazzaro blickt neckisch durch eine Filmklappe
Die künstlerische Leiterin von Locarno, Giona A. Nazzaro, ist das ganze Jahr über in der Filmwelt unterwegs. © Keystone / Jean-christophe Bott

Der Streik schlägt zu

In diesem Jahr war eine breitere internationale Beteiligung auf den Strassen und in den Kinos zu sehen, auch wenn viele der Ehrengäste, wie die Schauspielerin und Produzentin Cate Blanchett und der britische Schauspieler Riz Ahmed, ihre Teilnahme aus Solidarität mit dem laufenden Autor:innen- und Schauspieler:innenstreik in Hollywood abgesagt hatten.

Der Streik findet zwar in den Vereinigten Staaten statt, aber sein Ausgang wird einen grossen Einfluss darauf haben, wie sich die Branche weltweit umstrukturiert.

Der Streik war denn auch unvermeidbares Gesprächsthema. Es herrschte eine allgemeine Solidarität mit den Streikenden, aber man hörte auch einige kritische Stimmen, wie den spanischen Regisseur Albert Serra.

Einige andere Gäste schienen jedoch auf einer Mission zu sein, die Botschaft der Streikenden in Locarno zu verbreiten. Der amerikanische Schauspieler David Krumholtz, der bei Oppenheimer mitgespielt hat und in Locarno den Film Lousy Carter von Bob Byington vorstellte, weigerte sich, über Oppenheimer zu sprechen, und wollte stattdessen über den Streik diskutieren. Dabei brachte er seine Wertschätzung zum Ausdruck für die grosse Unterstützung, die der Streik von den europäischen Kollegen erhalte.

Wo die Filme die echten Stars sind

Ungeachtet der geladenen Gäste waren die wahren Stars in Locarno die Filme, wie Giona A. Nazzaro, der künstlerische Leiter des Festivals, mehrmals betonte. Die hohen Besucher:innenzahlen lassen dies erahnen, aber auch die allgemeine Stimmung unter den Filmkritiker:innen und in der Fachpresse war von Zufriedenheit geprägt.

Zwar stimmte die fast einstimmige Wahl der Filmkritiker:innen für den Hauptpreis, den Pardo d’Oro, nicht mit derjenigen der Jury überein: Der Film Do Not Expect Too Much from the End of the WorldExterner Link des rumänischen Regisseurs Radu Jude wurde am Ende der Vorführung mit viel Beifall bedacht.

Radu Jude posiert mit seinem Pardo vor einer reich bebilderten Wand
Der rumänische Filmregisseur Radu Jude, der mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet wurde. © Keystone / Jean-christophe Bott

Jude erhielt aber nur einen Sonderpreis der Jury, während der Hauptpreis an den iranischen Filmemacher Ali Ahmadzadehs Critical Zone ging.

Der Film, der heimlich und ohne Genehmigung der iranischen Behörden in den Strassen von Teheran gedreht wurde, zeigt einen Tag im Leben des Drogenhändlers Amir, der seine Geschäfte während einer nächtlichen Fahrt durch Teheran abwickelt.

Amir ist die klischierte Version eines Drogendealers: Seine Kunden sehen in ihm eine Mischung aus Heiligem, Medizinmann, Seelenheiler oder Psychologe. Seine sexuelle Impotenz macht ihn sowohl sicher als auch attraktiv für seine Geschäftspartner und Kund:innen, die fast alle Frauen sind.

Diese starken Frauen, wütend auf den Mullah-Staat, machen Eindruck: Sie schminken sich, rauchen, schnupfen Drogen, haben Orgasmen, und in der vielleicht bedeutendsten Szene streckt eine von ihnen ihren Kopf aus dem Schiebedach von Amirs Auto und schreit wiederholt «Fuck you».

Eine Frau schreit vom Schiebedach eines Autos
Eine klare Botschaft an die iranischen Behörden in nur zwei Schimpfwörtern: Szene aus «Critical Zone». Locarno Film Festival

Politik versus Kunst

Die Jury zog die politische Geste dem künstlerischen Akt vor, der Meisterschaft, die Radu Jude unter Beweis gestellt hatte. Aber die Wahl hat ihre Berechtigung: Critical Zone ist ein gefährlicher Film, ein Film, der die Mitwirkenden in lebensbedrohliche Situationen brachte.

Entgegengenommen wurde der Preis vom Produzenten Sina Ataeian Dena, der seine Wut darüber nicht verbarg, dass der Regisseur nicht beim Festival dabei sein konnte; dieser ist im Iran mit einem offiziellen Ausreiseverbot belegt und wird in seinem Land mutmasslich nie wieder einen Film drehen können.

Sehen Sie hier ein Zoom-Gespräch (in Englich) zwischen dem Produzenten Sina A. Dena und dem italienischen Kritiker Mauro Donzelli in Locarno sowie dem Regisseur des Films, Ali Ahmadzadeh, im Iran:

Externer Inhalt

Auch der Preis für die beste Regie an die Ukrainerin Maryna Vroda könnte als politische Solidaritätsbekundung gelesen werden, allerdings ist Stepne, ihr erster Spielfilm, auch von hoher künstlerischer Qualität.

Der Film wurde gedreht, noch bevor Russland im Februar 2022 seine»Spezialoperation» startete. «Aber man darf nicht vergessen, dass der Krieg bereits 2013 begonnen hatte», sagt Vroda. Der Film erzählt die Geschichte von zwei Brüdern, einem Ingenieur und einem Mitglied des staatlichen Sicherheitsapparats, die in ihr kleines, abgelegenes Dorf zurückkehren, um sich um ihre sterbende Mutter und die anschliessende Beerdigung zu kümmern.

Ein Jahrhundert der Kriege, Hungersnöte, des Elends und der Zerstörung scheint auf: durch subtile Handlungen und Dialoge sowie durch weniger subtile, aber zutiefst bewegende Schilderungen persönlicher Erlebnisse durch die alten Leute des Dorfes, die die Regisseurin unter Berücksichtigung ihrer sehr realen Lebenserfahrungen ausgewählt hat.

Maryna Vroda und Oleksandr Maksiakov vor einer begrünten Wand
Die ukrainische Regisseurin Maryna Vroda, die den Film «Stepne» gedreht hat, mit dem Schauspieler Oleksandr Maksiakov, in Locarno. Vroda liess es sich nicht nehmen, die Mitglieder der Crew zu erwähnen, die im Krieg gegen Russland gefallen sind. Locarno Film Festival / Ti-press

Weitere filmische Erlebnisse waren über die zahlreichen Sektionen des Festivals verstreut: die Retrospektive des mexikanischen Populärkinos, eine Panorama-Auswahl von Filmen aus allen Kontinenten (mit Ausnahme von Afrika), Kuriositäten und natürlich auch das eine oder andere Werk, das weder das Publikum noch die Kritiker:innen zu begeistern vermochte. Auf jeden Fall konnten sich die Filmliebhaber:innen in Locarno an Filmen erfreuen, die möglicherweise weder in den Kinos noch auf Streaming-Plattformen verbreitet werden.

Showbiz

Was das Filmgeschäft anbelangt, hat Locarno nach und nach die Aufmerksamkeit von Geschäftsführenden, Vertriebsagent:innen und Verleiher:innen auf sich gezogen. Die amerikanische Zeitschrift Variety, die in der Branche als Pflichtlektüre gilt, hat einen ihrer leitenden Redakteure, John Hopewell, nach Locarno geschickt, um die dort abgeschlossenen Verträge zu verfolgen und nach Hinweisen auf kommende Trends in der Branche Ausschau zu halten.

Besonderes Augenmerk richtete Hopewell auf die Filme und Projekte, die an Open Doors teilnehmen, einer der Sektionen von Locarno, die sich der Förderung von Produktionen in Ländern mit einer aufstrebenden Filmindustrie widmet.

Von 2022 bis zum nächsten Jahr liegt der Schwerpunkt auf Lateinamerika und der Karibik, mit Ausnahme der großen Länder wie Brasilien, Argentinien, Chile, Mexiko und Kolumbien. Damit wird die Bedeutung von Locarno für die Förderung des Kinos fernab des Blickfelds der Industrie unterstrichen.

Hopewell sagte gegenüber SWI, dass die höchsten Gebote in Locarno nicht für die Lieblinge der Kritiker oder des Publikums abgegeben wurden, sondern für einen Kinderfilm, Snot & Splash des finnischen Regisseurs Teemu Nikki.

Laut Hopewell ein klares Zeichen, dass die Verleiherfirmen sich immer noch vor künstlerischeren oder komplexeren Filmen für ihr Kinopublikum scheuen und auf die relative Sicherheit von Familienfilmen setzen.

Stabübergabe

Locarno 76 war auch das letzte Jahr, in dem Marco Solari Präsident des Festivals war. Solari, der in der Schweiz als einer der Grandseigneurs des italienischsprachigen Kantons Tessin bekannt ist, trug mit seinen weitreichenden politischen und geschäftlichen Beziehungen dazu bei, das Festival am Leben zu erhalten. Und er verteidigte stets dessen Bedeutung nicht nur für die Tessiner Wirtschaft, sondern für die ganze Schweiz.

Das Festival ist eng mit den wichtigsten Filminstitutionen des Landes verbunden, wie der Cinémathèque SuisseExterner Link, den Solothurner Filmtagen (die ausschliesslich Schweizer Produktionen gewidmet sind) und dem Dokumentarfilmfestival Visions du Réel, die alle in Locarno präsent sind.

Einzig das Zurich Film Festival hebt sich davon ab, allerdings mit einem völlig anderen kuratorischen Konzept, das seine internationale Anziehungskraft vor allem aus kommerziellen Filmen bezieht, die früher oder später in den Kinos oder auf Streaming-Plattformen landen werden.

Solaris ist dafür bekannt, dass er der künstlerischen Leitung freien Lauf lässt, während er in allen politischen, sozialen und operativen Belangen selbst Hand anlegt. Seine natürliche Identifikation mit dem Tessin machte ihn zu einem Botschafter des Kantons innerhalb und ausserhalb der Schweizer Grenzen.

Maja Hoffman mit Marco Solari, beide lachend
Die designierte Präsidentin des Filmfestivals Locarno Maja Hoffmann und Marco Solari während einer Pressekonferenz. Der scheidende Präsident Solari wird Hoffmann während einer Übergangszeit begleiten, die nach der 76. Ausgabe des Festivals beginnt. Keystone / Samuel Golay

Die neue Präsidentin, Maja Hoffmann, könnte nicht unterschiedlicher sein. Die Erbin des Pharmakonzerns Roche kennt das Tessin kaum und spricht kein Italienisch. Sie ist jedoch eine international bekannte Kunstsammlerin und sitzt unter anderem im Verwaltungsrat des New Museum of Contemporary Arts (New York), der Londoner Serpentine Gallery und des Tate International Council (London).

Neben ihrer Tätigkeit an der Spitze mehrerer anderer Institutionen wie der Kunsthalle Zürich und dem Swiss Institute (New York) gründete sie 2004 die LUMA FoundationExterner Link, die Kunst und Institutionen in einem breiten Spektrum fördert. Sie hat sich auch in der Filmproduktion versucht, vor allem mit Dokumentarfilmen über die Kunst.

Hoffmann war dieses Jahr in Locarno nicht anwesend. «Sie sagt, sie wolle Solari nicht die Show stehlen», so ein Festivalvertreter, der nicht genannt werden will. Angesichts ihrer Abneigung gegen Interviews und der Tatsache, dass sie noch keine Pläne für das Festival bekannt gegeben hat, ist es nicht verwunderlich, dass unter den Beteiligten des Festivals eine gewisse Besorgnis herrscht.

Wird Hoffmann den Kurs ändern? Das Festival kommerzieller machen? Oder es näher an den Kunstbetrieb heranführen? Wohl als Reaktion auf diese Ungewissheit haben sowohl die lokalen Medien als auch die internationalen Gäste zum Abschluss der Veranstaltung unmissverständliche öffentliche Appelle ausgesprochen.

Die Zeitung Corriere del TicinoExterner Link ermahnte die neue Präsidentin, nicht zu vergessen, was Locarno zu Locarno machte: «den Geist, der von Neugier, Mut und vor allem von der Liebe zu Freiheit und Gerechtigkeit durchdrungen ist». Der niederländische Produzent Matthijs Wouter Knol, Mitglied der diesjährigen Jury, schrieb auf seiner Facebook-Seite: «Locarno, bleib so wie du bist, bitte – du bist wirklich herausragend».

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