«Am Tag Jungfrau und des Nachts Weib»
Als Kandidat für das Priesteramt am Grossmünster steht Huldrych Zwingli kurz vor dem entscheidenden Karriereschritt. Doch am 3. Dezember 1518, mitten im Auswahlprozedere, meldet ihm sein Freund Oswald Myconius, es gehe das Gerücht, er habe die Tochter eines hohen Zürcher Beamten verführt. Er solle ihm doch so rasch als möglich "Bescheid wegen der geschändeten Jungfrau" geben: "Nicht weil ich ja nicht gut genug wüsste, dass nichts daran ist, sondern nur, damit ich den Missgünstigen das Maul stopfen kann."
Myconius irrt sich. Zwingli, der seit bald zwei Jahren Priester im Kloster Einsiedeln ist, befürchtet in der Tat, er habe eine junge Frau geschwängert. In Anbetracht der Gerüchte entschliesst er sich zur Flucht nach vorn und schickt Heinrich Utinger, einem der Wahlmänner, eine mehrseitige Rechtfertigung.
«Diese Verleumdung darf ich nicht unerwidert lassen», empört sich Zwingli in diesem Schreiben. Er wolle deshalb «ganz offen» berichten, was es damit auf sich habe.
Das Fleisch ist schwach
Dann holt er aus: Bereits vor drei Jahren, als er noch Priester in Glarus war, habe er «den festen Vorsatz» gefasst, «kein Weib mehr zu berühren». Leider sei ihm das «nicht gut gelungen». Zwar sei er den guten Vorsätzen eine Weile treu geblieben, doch in Einsiedeln, «da bin ich gefallen». Das «Mädchen», mit dem er gesündigt habe, sei allerdings nicht die Tochter eines mächtigen Zürchers, sondern eines Barbiers in Einsiedeln.
Zwingli versichert, er sei voll «tiefer Beschämung», doch das hindert ihn nicht daran, sich als Opfer und die junge Frau als Sirene zu beschreiben. der es «nur mit Mühe und mit mehr als lockenden Verlockungen» gelungen sei, ihn zu verführen. Bevor er ihren Ruf demontiert, räumt er zwar noch ein, es sei «ein schlechtes Zeichen, wenn man ganz offen gegen eine Frau loszieht», doch er habe gute Gründe dafür. Die Barbierstochter sei nämlich «am Tag Jungfrau und des Nachts Weib» gewesen und habe es vor ihm bereits mit diesem oder jenem «getrieben».
Zwingli ist diskret, er nennt keine Namen, doch er gibt Utinger zu verstehen, beim Mann, der die Barbierstochter entjunfert habe, handle es sich um einen gemeinsamen Bekannten. Der andere sei ein «Einsiedler Helfer», also ein niedriger Beamter oder Hilfslehrer.
Der unsittliche Lebenswandel dieser «nicht nur geschändeten, sondern schon eher schandbaren» jungen Frau sei nicht nur ihrer Familie, sondern der gesamten Bevölkerung von Einsiedeln bekannt. Darum sei es hier auch niemandem eingefallen, ihn «der Schändung zu beschuldigen».
Immer diskret
Um den Vorwurf zu kontern, er habe die junge Frau entjungfert, beteuert Zwingli, er habe Zeit seines Lebens drei Grundsätze befolgt: nie eine Jungfrau zu schänden, keine Nonne zu entweihen und «keine Ehe zu verletzen (weil die Bettdecke, wie Jesaja sagt, zu kurz ist, um zwei Männer zugleich zu decken)».
Dank seinem «Anstandsgefühl» sei er «bei diesen Dingen» zudem immer diskret vorgegangen. Schon in Glarus, an seiner letzten Stelle, habe er es «so im Geheimen» gemacht, dass sogar «die nächsten Bekannten kaum etwas davon merkten». Dass er seine Diskretion herausstreicht, ist kein Zufall, denn es ist keine Seltenheit, dass Priester in aller Offenheit mit einer Geliebten zusammenleben und Kinder mit ihr haben.
Weitaus heikler als die Jungfernschaft ist die Schwangerschaft. Einerseits will Zwingli nicht lügen, andererseits will er die Vaterschaft nicht anerkennen, denn daraus könnten ihm gesellschaftliche und materielle Nachteile erwachsen.
Seine Erklärung ist entsprechend gewunden: Er habe mit dem gemeinsamen Bekannten hie und da die Barbierstube aufgesucht, wo die junge Frau gearbeitet habe, und da sie ein Auge auf ihn geworfen habe, sei es schliesslich so weit gekommen, «dass sie nun von mir schwanger ist, wenn sie das wenigstens sicher wissen kann».
Kaum hat Zwingli also die Vaterschaft gestanden, relativiert er sie. Doch es scheint ihm unwohl dabei, an anderer Stelle erklärt er nämlich, falls die junge Frau behaupte, sie sei schwanger von ihm, «so leugne ich es nicht».
Kontakt abgebrochen
In seiner Rechtfertigung liefert uns Zwingli interessante Auskünfte über diese namenlose Frau. Ihre Existenz war anscheinend in mehrfacher Hinsicht prekär. In ihrem Elternhaus herrschte Unfrieden, laut Zwingli warf der Barbier seiner Frau – «mehr heftig als wahr» – immer wieder vor, sie betrüge ihn, obwohl sie «ein offenkundig treues und braves Weib» war.
Auch mit der Tochter lebte der Barbier im Streit. Er habe sie «seit bald zwei Jahren verstossen und ihr weder Nahrung noch Kleidung zukommen lassen». Zwingli macht keine Angaben über die Gründe, doch die Vermutung liegt nahe, dass es um eine Männergeschichte ging.
Er erzählt uns auch nicht, wo und wovon die junge Frau lebte, nachdem sie das Dach über dem Kopf und die materielle Unterstützung des Vaters verloren hatte. Klar ist, sie blieb in Einsiedeln, sonst hätte Zwingli sie nicht kennengelernt. Seine Bemerkung, sie habe ihr Verhältnis mit dem niedrigen Beamten «nicht in Abrede gestellt», könnte immerhin darauf hindeuten, dass sie mit diesem Mann im Konkubinat lebte und so ihre Probleme – das Fehlen von Arbeit, Essen und Unterkunft – löste.
Als die Barbierstochter merkte, dass sie schwanger war, verliess sie Einsiedeln, bestimmt um ihren Zustand zu verstecken. Sie sei, schrieb Zwingli, «jetzt in Zürich und mag auf die Geburt warten, doch weiss ich beim Herkules nicht wo». Mit anderen Worten: er hatte keinen Kontakt mit der werdenden Mutter, und anscheinend auch nicht vor, sich um sie zu kümmern.
In Anbetracht von so viel männlicher Achtlosigkeit fragt man sich heute, ob die Gerüchte, die in Zürich kursierten, nur Zufall waren, oder ob die Barbiertstochter sich damit am Treulosen rächen wollte. Geschadet haben ihm die Gerüchte jedenfalls nicht: Am 1. Januar 1519 konnte Huldrych Zwingli seine neue Stelle am Grossmünster antreten.
Dass sein Konkurrent mit einer Geliebten und den sechs gemeinsamen Kindern zusammenlebte, wird den Zürcher Chorherren die Entscheidung wohl erleichtert haben.
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