Das neue Kunsthaus Zürich: Zurück in eine internationale Liga?
Das Kunsthaus Zürich steht vor einer wichtigen Zäsur: Der Erweiterungsbau ist fast fertiggestellt und das Auswahlverfahren für eine neue Leitung läuft. Zürich und die Schweiz sehen beidem mit Spannung entgegen. Kann sich das Kunsthaus damit künftig international positionieren? swissinfo.ch hat bei Kuratorinnen und Kuratoren renommierter Kunstmuseen im In- und Ausland nachgefragt.
Monumental massig und doch anmutig erscheint er – der Erweiterungsbau, den Stararchitekt David Chipperfield für das Kunsthaus ZürichExterner Link konzipiert hat. Der kompakte Quader erhebt sich am Heimplatz gegenüber dem historisch gewachsenen Museumskomplex und gewährt zwischen rhythmisch aufstrebenden Lisenen durch schmal hochformatige Fenster Einblick ins Innere des neuen Kunsttempels. Golden schimmert das Messing der Eingangstür und wirkt wie ein Symbol für die Verheissung, die mit diesem Neubau verbunden ist.
Das Raumangebot des Kunsthauses wird verdoppelt, neue, gewichtige Dauerleihgaben wie jene von Emil Georg BührleExterner Link (1890–1956) werden hier schwerpunkmässig präsentiert, ein Festsaal sowie ein ausgebautes Begleitprogramm sollen die erneuerte Institution «zum grössten und dynamischsten Kunstmuseum der SchweizExterner Link» machen und ihr internationales Renommee stärken.
Zürichs Galerien sind diesem Lockruf bereits gefolgt: Wer es sich leisten kann, hat entlang der Rämistrasse, ideal gelegen zwischen Kunsthaus und See, Position bezogen. Rund ein halbes Dutzend Galerien verlagerten ihren Sitz in den letzten zwei Jahren in die Gegend oder betreiben hier eine neue Filiale, etwa die Galerien Lange + Pult oder Eva Presenhuber.
Anfang Dezember nun wird das Kunsthaus die Tore des Erweiterungsbaus erstmals für das Publikum öffnen: Nach der Schlüsselübergabe der Bauleitung an die Stiftung Zürcher Kunsthaus kann die Architektur am Wochenende vom 12. und 13. Dezember 2020 besichtigt werden.
Die Kunst zieht erst später ein: Für kommenden April und Mai ist eine Reihe von Preview-Events mit Führungen und Performances geplant, das komplett bestückte Haus soll im Herbst 2021 in Betrieb genommen werden.
Kurz darauf, im Laufe des Jahres 2022, wird der amtierenden Direktor Christoph Becker (*1960) die Leitung an eine Nachfolge übergeben, deren Auswahlverfahren derzeit läuft. Viel Neues kündigt sich im Kunsthaus Zürich also an, was in der Szene entsprechende Erwartungen, Wünsche und Fragen weckt.
Von der Strahlkraft der Impressionisten
Mit Spannung sieht sowohl das Kunsthaus als auch das Fachpublikum der Präsentation der Sammlung Emil Bührle entgegen. «Die Bührle-Sammlung wird endlich neu erstrahlen können», schwärmt etwa Bice Curiger, die lange und wegweisend am Kunsthaus Zürich kuratierte und heute die Fondation Vincent Van Gogh in ArlesExterner Link leitet.
Und der gebürtige Berner Philipp Kaiser, vormaliger Direktor des Museums Ludwig in KölnExterner Link, der jetzt in Los Angeles lebt und 2017 den Schweizer Pavillon auf der Biennale VenedigExterner Link kuratierte sagt: «Ich freue mich insbesondere darauf, die Cézannes und Gauguins wiederzusehen.»
Emil Georg Bührles Sammlungskonvolut mit Meisterwerken des Impressionismus war bis 2015 in einer Villa an Zürichs Stadtrand untergebracht. Im Chipperfield-Bau soll sie nun separat gezeigt werden, wie auch die ebenfalls neu zum Kunsthaus stossende Sammlung Merzbacher mit Kunst der Moderne. Eine weitere PrivatsammlungExterner Link, jene von Hubert Looser, mit ihren Schwerpunkten in den 1960er-Jahren wird von Anfang an stärker mit den Beständen des Kunsthauses verzahnt.
Die neuen Dauerleihgaben, und besonders jene der Bührle-Stiftung, spielten in der Geschichte des Neubaus eine wesentliche Rolle: «Die Kunsthaus-Erweiterung war von Anbeginn auf einen markanten qualitativen Sprung der Sammlung ausgerichtet», erklärt Christoph Becker, der die Planung das Bauprojekts seit den ersten Ideenfindungen anno 2001 begleitet. Somit war es für das Kunsthaus ein Meilenstein, als 2012, im Anschluss an eine frühe Absichtserklärung von 2006, der Vertrag mit der Stiftung Bührle geschlossen werden konnte.
In der Öffentlichkeit allerdings löste die geplante Einbindung dieser Sammlung, die durch die kontroversen Geschäfte des Waffenfabrikanten und Kunstliebhabers Bührle überschattet ist, wiederholt heftige Debatten aus.
Die ProvenienzforschungExterner Link zu den Werken ist mittlerweile aber weit fortgeschritten, eine gesamthafte Untersuchung Externer Linkzur Geschichte der Sammlung, der zuvor in den Medien mangelnde Unabhängigkeit vorgeworfen wurde, ist soeben erschienen.
Die kunsthistorische Bedeutung des Konvoluts ist derweil unbestritten: Das Kunsthaus beherbergt damit neben Paris die europaweit bedeutendste Kollektion des Impressionismus und Postimpressionismus und gewinnt, so das Narrativ seitens Kunsthaus, an internationaler Ausstrahlung.
Rein Wolfs: Ein «Quantensprung» für Zürich
Auf Anfrage gehen verschiedene Museumsleute aus dem In- und Ausland mit dieser Prophezeiung einig. Rein Wolfs, der seit Ende 2019 das Stedelijk Museum in AmsterdamExterner Link leitet, gibt zwar zu bedenken, dass viele Häuser in Europa mit ihren erstklassigen Sammlungen um Aufmerksamkeit buhlen. Dennoch spricht er von einem «Quantensprung, auch im Vergleich zu Basel», neben dessen kultureller Strahlkraft die Limmatstadt in den letzten Jahren eher blass dastand.
Wolfs war in Zürichs goldenen Jahren der 1990er Gründungsdirektor des Migros Museums für GegenwartskunstExterner Link und ist somit gut vertraut mit der hiesigen Szene. Christina Végh, gebürtige Zürcherin und heute Direktorin der Kunsthalle BielefeldExterner Link, geht davon aus, dass besonders zu Beginn das Interesse und die internationale Neugier auf Bührles Sammlung und den Neubau gross sein werden. Aber: «Am Ende ist es wichtig, wie das Kunsthaus längerfristig mit der Sammlung umgeht, statisches Verharren ist selten von Vorteil.»
Hier kommt die zukünftige Leitung ins Spiel, denn es dürfte klar sein, dass ein «Museum des 21. Jahrhunderts», wie es das Team rund um Becker anstrebt, nicht allein durch eine Erweiterung der Räumlichkeiten und der Bestände geschaffen wird. Josef Helfenstein, der 2016 als antretender Direktor am Kunstmuseum BaselExterner Link eine ähnliche Situation vorfand, nennt es weder Fluch noch Segen. «Es ist, wie es ist», sagt er, und ergänzt: «Das Wichtigste scheint mir, dass die Folgekosten nicht unterschätzt werden. Das war bei uns in Basel ein Problem.» Den Gesprächen mit seinem Kollegen Christoph Becker entnimmt er aber, dass man diese Thematik im Kunsthaus Zürich auf dem Radar hatte, was auch der Noch-Direktor selbst bekräftigt.
Einen anderen Aspekt gibt Tobia Bezzola zu bedenken. Der Direktor des MASI in LuganoExterner Link war von 1995 bis 2012 – zeitgleich wie Curiger – Kurator am Kunsthaus Zürich. Die neue Direktion, sagt er, wird mit der erweiterten Institution ein Projekt vollenden, dessen Planung 20 Jahre alt ist. Das internationale Expertenhearing, das man 2001 veranstaltete, ging noch von einem «Kunsthaus Zürich 2010» aus. Verschiedene Faktoren, unter anderem ein Rekurs gegen die Baubewilligung der Luzerner Stiftung Archicultura 2013, sorgten für Verzögerungen. Ob man sich auf jene ursprüngliche Auslegeordnung, die in einer wirtschaftlichen Boom-Phase erstellt worden war, noch berufen könne, sei wohl fraglich, sagt Bezzola. «Die Welt hat sich gedreht in der Zwischenzeit», ergänzt er, und sieht eine schöne Herausforderung für die neue Leitung darin, auszuloten, was man mit diesem Haus heute machen kann.
Das Haus soll wieder in eine höhere Liga
Profilierung wird eine zentrale Aufgabe der neuen Direktorin, des neuen Direktors sein. Sie ist – das betonen auch die befragten auswärtigen Stimmen– wesentlich für die internationale Ausstrahlung und die angekündigte Dynamik und Aktualität. Mit Christina Végh gesprochen, geht es bei einem Haus dieser Grösse darum, dass man ein Sensorium für die relevanten Diskurse der Zeit besitzt und hier tonangebend ist, nicht bloss mitzieht.
Es gab eine Phase, in der das Kunsthaus Zürich durchaus in dieser Liga spielte – mit den Grossausstellungen des freien Kurators Harald SzeemannExterner Link in den 1980ern und 1990ern etwa, welche den Kunstkanon immer wieder sprengten, oder mit jenen von Bice Curiger, die stets von einer wachen Beobachtungsgabe für virulente Themen der Kunst und unserer Zeit zeugten.
In den letzten zehn, fünfzehn Jahren aber hat Zürich «etwas an Kraft und Glanz verloren», wie es Philipp Kaiser formuliert. «Das ist für die neue Leitung eine äusserst attraktive Ausgangslage, sich zu positionieren und gleichzeitig die lokale Szene neu zu aktivieren.»
Haben Schweizer Kandidaturen eine Chance?
Das Auswahlgremium für die neue Leitung lässt immerhin vermuten, dass man nach einer Person sucht, die nicht bloss administrativ, sondern auch inhaltlich stark ist: Neben fünf Vertreterinnen und Vertretern der Zürcher Kunstgesellschaft (dem Trägerverein der Institution) und der Schweizer Künstlerin Pipilotti RistExterner Link haben Achim Borchardt-Hume, leitender Kurator an der Tate Modern London,Externer Link Philipp Demandt, Direktor von Städel MuseumExterner Link, Liebieghaus SkulpturensammlungExterner Link und Schirn KunsthalleExterner Link in Frankfurt am Main sowie Sheena Wagstaff, Leiterin des Programms Modern and Contemporary Art am Metropolitan Museum in New YorkExterner Link Einsitz.
Zwar ist der fachliche Teil des Komitees damit «etwas angelsächsisch» geprägt, wie es der Stedellijk-Direktor Rein Wolfs ausdrückt. Ob potentielle Schweizer Kandidatinnen und Kandidaten in diesem Setting eine Chance haben, bleibt abzuwarten. Doch die Tatsache, dass man nicht nur Direktorinnen und Direktoren, sondern auch Museumsleute einberufen hat, die näher am Tagesgeschäft sind, weist darauf hin, dass man die kuratorischen Fähigkeiten bei der Selektion stark gewichtet.
Unabhängigkeit und Anbindung ans Lokale
Bis die Wahl kommuniziert wird, braucht es – wie auch beim Einzug der Kunst in den Neubau – noch etwas Geduld: Geplant war der Entscheid für Frühjahr 2021, wegen der Pandemie und der damit verbundenen Reisebeschränkungen verzögert sich das Verfahren nun voraussichtlich. Solange bleibt der Raum offen für Thesen, Wünsche und Hoffnungen. Dem MASI-Direktor Tobia Bezzola scheint es besonders wichtig, dass im Moment dieser Zäsur des Hauses jemand die Führung übernimmt, der gerne und transparent, proaktiv und breit kommuniziert und vermittelt.
Bice Curiger wünscht sich «jemanden, der oder die dem Zürcher Publikum vertraut, es liebt und zugleich dringlich herauszufordern versteht», und sie ergänzt: «Mit Selbstvertrauen aufs aufgeschlossen Eigene braucht man nicht die anderen im Kleinformat zu kopieren, um sogenannt internationale Ausstrahlung zu gewinnen.»
Auch Philipp Kaiser betont die nötige Unabhängigkeit und die Anbindung ans Lokale: «Letztlich muss die Person in Zürich funktionieren.» Eine mutige Person mit kuratorisch künstlerischer Vision schwebt ihm für Zürich vor, Ähnliches wie Christina Végh: «Eigensinn und Charakter.» Wenn das Auswahlgremium ebenso gestimmt ist, darf sich Zürich auf viel frischen Wind und vielleicht sogar auf erneut golden schimmernde Zeiten freuen.
12./13. Dezember 2020: Besichtigungswochenende Erweiterungsbau (wegen Corona abgesagt)
10. April 2021: Ball, gefolgt von Preview-Events mit Performances, Führungen u.a. im April/Mai 2021
9./10. Oktober 2021: Eröffnung Vollbetrieb des neuen Kunsthauses beiderseits des Heimplatzes
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