Das soziale Gedächtnis der Schweiz wird 100
Das Schweizerische Sozialarchiv ist mehr als ein Spiegelbild des Klassenkampfes im Land. Die Institution feiert ihren 100. Geburtstag.
Von der Industrialisierung bis zur aktuellen Dienstleistungsära: Das Archiv sammelt Dokumente, die den Wandel der Gesellschaft aufschlüsseln helfen.
Massenarbeitslosigkeit, schreiende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, katastrophale hygienische Verhältnisse, gewalttätige Konfrontationen zwischen Oben und Unten: Im Zuge der Industrialisierung waren das die Zustände nicht nur in der Stadt Zürich, sondern in der ganzen Schweiz.
Konkreter Anlass der Gründung des Schweizerischen Sozialarchivs war ein wochenlanger Streik in einer Automobilfabrik im Zürcher Quartier Albisrieden, der im Frühsommer 1906 tobte.
Es kam zu wüsten Szenen, denn Stadtregierung und Patrons liessen die Polizei und Armee aufmarschieren. Die Arbeiterschaft organisierte sich und mobilisierte die Massen.
Systematische Dokumentensammlung
Paul Pflüger, der «rote Pfarrer» im Arbeiterquartier Aussersihl, wollte einen Beitrag zur Lösung der explosiven sozialen Spannungen liefern. Er begann mit einer exakten Dokumentation von sozialen und politischen Tagesfragen – das Sozialarchiv war geboren, unter dem damaligen Namen «Zentralstelle für Soziale Literatur».
Die Uhren im Sozialarchiv sind aber nicht bei der Industrialisierung und den Kämpfen der Arbeiterschaft um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen stehen geblieben.
Immer noch aktuell
«Die soziale Frage hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts verändert, ist aber nach wie vor aktuell,» sagt Anita Ulrich, Vorsteherin des Sozialarchivs, gegenüber swissinfo.
Heute dokumentiere das Archiv die Probleme einer modernen städtischen Gesellschaft. «So befassen wir uns mit den neuen Arbeitsverhältnissen, wie sie sich in einem Dienstleistungsbereich, beispielsweise den Banken, beobachten lassen», erklärt Ulrich.
Links, aber nicht nur
Die Institution umfasst 150’000 Bücher, 300 Archive, 1,5 Mio. Zeitungsausschnitte und eine Sammlung von Broschüren, Flugschriften und Bild-Dokumenten.
Die Spannweite der archivierten Materialien bezeugt in erster Linie politische und kulturelle Aktivitäten der Linken. Aber nicht nur der Linken. Dokumentiert ist beispielsweise auch der Kampf des politischen Rechtsaussen James Schwarzenbach gegen die «Überfremdung» ab den 1960er-Jahren.
Wichtiges Forschungszentrum
Indem das Sozialarchiv die unterschiedlichen Quellen für Forschung, Medien und auch ein privates Publikum zugänglich macht, wird es zum kollektiven Gedächtnis für soziale Probleme und kulturellen Wandel in der Schweiz.
Angesichts der Einzigartigkeit grosser Teile des Quellenmaterials sei dessen Wert für die Forschung sehr hoch, wie Anita Ulrich zum Jubiläum hervor hob. Sie verdeutlicht dies am Beispiel der Zürcher Jugendbewegung von Anfang der 1980er-Jahre.
Bewegung lebt weiter
Vor gut einem Vierteljahrhundert hatten Tausende junger Menschen von der Stadt Freiräume für eine alternative, nichtkommerzielle Kultur gefordert. Der Auftakt einer Reihe gewalttätiger Demonstrationen, der so genannte Opernhaus-Krawall, erweckte gar das Interesse der internationalen Medien.
Sie berichteten irritiert über die Strassenschlachten in der sonst so diskreten Stadt, bei denen die Polizei gegen die Demonstranten massiv Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse einsetzte.
Auch wenn das damalige Herz der Bewegung, das AJZ (Autonomes Jugendzentrum), von der Polizei nach kurzer Zeit wieder geschlossen wurde: Die damalige Subkultur hatte eine breite Wirkung auf das Zürich von heute, sagt Anita Ulrich.
Viele Einflüsse
Festzustellen sei dies besonders in den Bereichen Medien, Veranstaltungsformen, Grafik, Design oder etwa der Produktgestaltung. Auf der ökonomischen Ebene reicht der Einfluss bis zur Unternehmens-Organisation – Stichwort selbst verwaltete Firmen – und zum Marketing.
Nicht zu vergessen sind auch die von der «Bewegung» beeinflussten Wohnformen und Wohnprojekte, so etwa das KraftWerk 1 im ehemaligen Zürcher Industriequartier.
Beim jungen Publikum ist das Interesse an den Jugendunruhen vor einem Vierteljahrhundert sehr gross, wie Ulrich feststellt: «Die Dokumente zur 1980er-Bewegung gehören zu den am meisten ausgeliehenen Dokumenten des Schweizerischen Sozialarchivs.»
Hoch im Kurs
Die heutige Generation an den Universitäten, die 1980 noch gar nicht geboren war, entdecke nun diese Jugendbewegung und interessiere sich dafür, sagt Anita Ulrich weiter.
«Das Phänomen ist ein sehr attraktives Forschungsfeld, auf dem das Sozialarchiv ausgezeichnet dokumentiert ist, besonders aufgrund der rund 120 Videos.»
Im Sozialarchiv ist neben Vergangenheit und Gegenwart auch die Zukunft ein Thema. In den nächsten Jahren wird das Sozialarchiv gemäss Ulrich den Zettelkatalog und die Archiv-Verzeichnisse digitalisieren. Zudem werden ab 2008 auch digitale Dokumente wie Internetseiten oder Newsletters gesammelt.
swissinfo, Renat Künzi
Das Sozialarchiv wurde 1906 gegründet, als in der Schweiz der Klassenkampf zwischen Arbeitern und Unternehmern herrschte.
Es umfasst 150′ 000 Bücher, 300 Archive, 1,5 Mio. Zeitungsausschnitte und eine einzigartige Sammlung von Broschüren, Flugschriften und Bilddokumenten.
Das Sozialarchiv beschäftigt 20 Personen, die 13,3 Stellen belegen.
Das Archiv steht allen offen.
Weitere Aktivitäten im Jubiläumsjahr:
28. Juni: «Wie vermittle ich Forschungswissen zur Sozialen Frage an die Medien?» (Workshop)
16. September 2006: Gebursttagsfest in Zürich.
In der Schweiz tobte nach der Industrialisierung ein heftiger Klassenkampf. Arbeiter und ihre grossen Familien lebten meist in grosser Armut. Sie forderten kürzere Arbeitszeiten und bessere Wohnungen (hohe Kindersterblichkeit!).
Höhepunkt war der Schweizerische Landesstreik 1918. Trotz Niederschlagung zeigte er Erfolge (kürzere Arbeitszeit, mehr Einfluss der Gewerkschaften).
1937 schlossen Gewerkschaften und Arbeitgeber den so genannten Arbeitsfrieden ab (Konflikte auf Verhandlungsweg lösen, keine Streiks).
Neben den Arbeitern sorgten später neue soziale Bewegungen für gesellschaftlichen Wandel: Studenten-, Frauen-, Jugend-Bewegung, Atomkraftwerk-Gegner oder die Gruppe für eine Abschaffung der Schweizer Armee.
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