Deftige Bildorgien und stille Dramen im Kurzformat
Von Liebe und Tod, Leben und Überleben in einer versehrten Welt erzählen die kurzen Filme von jungen, vielversprechenden Regisseuren aus dem östlichen Mittelmeerraum.
Das Programm «Leoparden von Morgen» am Filmfestival Locarno öffnet ein Fenster auf brennende Konflikte unserer Zeit, auf private ebenso wie auf politische.
Zwei junge Israeli vor einem zerbombten Haus. Das Thema ist so schrecklich wie aktuell: Wie reagiert man, wenn die eigenen Eltern bei einem Bombenattentat ums Leben gekommen sind?
Ido hat ein ständiges Brummen im Kopf (Crickets), das ihn fast wahnsinnig macht. Bis er zu wetten beginnt: wo und wann der nächste Anschlag stattfinden wird und mit wie vielen Todesopfern.
Als zwei Wochen lang nichts geschieht, beginnt das Brummen wieder und er dreht fast durch, pfeift auf den Friedensprozess, braucht ein Attentat.
Seine Sucht nimmt immer groteskere Formen an und steigert sich soweit, dass er schliesslich selber eine Bombe baut.
Der Kurzfilm «Crickets» des jungen israelischen Regisseurs Matan Guggenheim wurde von der Universität Tel Aviv produziert, wo Guggenheim bis vor kurzem Film studiert hat. Und er ist einer der verzweifeltsten und berührendsten der Sektion «Leoparden von Morgen – östlich des Mittelmeers» in Locarno.
Politik soll draussen bleiben
Kurz vor Beginn des Festivals machte eine Kurzmeldung Schlagzeilen, dass die Festivalleitung Israel als Ko-Sponsor der Reihe wieder ausgeladen hat, nachdem der Krieg in Nahost begonnen hatte. Angeblich hatten arabische Regisseure gedroht, ihre Filme zurückzuziehen, wenn Israel sich an der Finanzierung beteilige.
Hat das Festival sich arabischen Erpressungsversuchen gebeugt? Nein, beteuerte der künstlerische Direktor Frédéric Maire sogleich, man habe bloss die durch den Krieg gespannte Atmosphäre entschärfen wollen.
«Wir wollen hier nicht Politik machen», sagt Chicca Bergonzi, Verantwortliche für die Sektion «Leoparden von Morgen» gegenüber swissinfo. «Wir konnten alle Filme zeigen, die wir zeigen wollten, und fast alle der eingeladenen Regisseure konnten nach Locarno kommen, das ist die Hauptsache.»
Die Filme kommen übrigens nicht nur aus dem Nahen Osten. Die Bezeichnung östlich des Mittelmeers umfasst so unterschiedliche Länder wie Israel/Palästina, Griechenland, Türkei, Bulgarien, Slowenien, Serbien und Libanon. Was verbindet diese ausser der räumlichen Nähe?
Junge Weltbürger und ihre Sprache
«Gemeinsam ist all diesen jungen Filmemachern, dass sie Weltbürger sind», sagt Chicca Bergonzi. «Sie versuchen mit filmischen Mitteln, aus ihrem schwierigen Leben auszubrechen, sich selbst auszudrücken und ihre Träume zu verwirklichen, so unterschiedlich ihre jeweiligen Bindungen zu ihren Wurzeln auch immer sind.»
Als weitere Gemeinsamkeit dieser Filme fällt ihre grosse Emotionalität und eine starke, lebenspralle Bildsprache auf. Es geht um Fleisch und Blut, Sex und Sinnlichkeit. Ein krasses Beispiel ist der serbische Film «Ohcet» (Hochzeit) von Petar Pasic, der wohl nicht zufällig an die Verrücktheiten des Emir Kusturica erinnert.
Der 15-minütige Film beginnt mit einer ausladenden Hochzeitstafel samt Spanferkel in einem Jagdpavillon und endet in wildem Schlachten und Kopulieren, wobei sich das Brautpaar allerdings aus den Augen und den Armen verliert.
Zusammenarbeit mit Kunstschulen
Doch nicht in allen Filmen geht es so laut und bunt zu. Aus der Türkei kommt «Toz» (Staub) von Fatih Kizilgök über das stille Drama eines Paars, das abgeschlossen von der Welt lebt, umgeben von Staubflocken, die stetig fallen wie Schnee.
Was diese lokal verwurzelten Filme über alle kulturellen Differenzen hinweg so berührend macht, ist neben den universellen Themen wie Liebe und Tod ihr direkter und unverblümter Blick in die Abgründe der menschlichen Existenz.
Die Festivalleitung hat bei der Auswahl der Filme eng mit Kunstschulen aus der Region zusammengearbeitet. So haben zahlreiche junge Regisseure und Regisseurinnen für ihre Abschlussarbeiten des Filmstudiums in Locarno erstmals ein internationales Publikum gefunden.
swissinfo, Susanne Schanda, Locarno
Die Sektion «Leoparden von Morgen» gibt es am Internationalen Filmfestival Locarno seit 1991. Sie stellt jedes Jahr eine junge Generation von Filmemachern aus der Schweiz und einer Region der Welt vor, in der sich kulturell besonders interessante Themen zeigen.
Letztes Jahr kamen die «Leoparden von Morgen» aus Afrika, dieses Jahr aus dem östlichen Mittelmeerraum: Libanon, Israel, Jordanien, Türkei, Griechenland und Länder des ehemaligen Jugoslawien.
Die Kurzfilm-Reihe hat zum Ziel, einerseits neue Talente zu finden, andererseits Rückschau zu halten auf frühe Werke von heute etablierten Namen.
Das Internationale Filmfestival Locarno dauert noch bis 12. August.
Die Sektion «Leoparden von Morgen» ist unterteilt in Kurzfilme von jungen Schweizern und solche von jungen Regisseuren aus dem östlichen Mittelmeerraum.
Die Filme von letzteren wiederum sind unterteilt in Wettbewerb (neue Filme) und Retrospektive, die Filme aus den letzten zehn Jahren zeigt.
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