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Der afrikanische Film dürstet nach Freiheit

Die afrikanische Delegation auf dem roten Festival-Teppich in Locarno. Festival del film Locarno

Seit zehn Jahren versucht das Filmfestival Locarno, über "Open Doors"-Preise auch Filme aus dem Süden und Osten bekannter zu machen. Der Blick gilt dieses Jahr dem subsaharischen frankophonen Afrika, mit Cineasten wie Ousmane Sembène oder Souleymane Cissé.

«Kommt mit uns zum Fest. Dieser Preis gehört nicht nur uns, sondern ganz Afrika», sagt Daouda Coulibaly, eine junge Regisseurin aus Mali und eine der vier Gewinnerinnen des Open-Doors-Awards.

Ihr Filmprojekt, das noch im Frühstadium steckt, dreht sich um die simple Frage: Ist die organisierte Kriminalität die einzige Alternative, die Afrika bleibt, um sich endlich zu entwickeln? «Was in den vergangenen Monaten in Mali geschehen ist, ist nur die Spitze eines Eisbergs», sagt Coulibaly gegenüber swissinfo.ch.

«Mit Ladji Nyé wollte ich tiefer gehen und Korruption, Drogen oder Klientelismus angehen. Damit will ich aufzeigen, was für Alternativen man jungen Afrikanern vorschlagen könnte, damit sich diese negative Dynamik anderswo nicht wiederholt.»

Zusammen mit elf anderen afrikanischen Filmschaffenden des subsaharischen französischsprachigen Afrika war Coulibaly nach Locarno eingeladen, um ihr cinematografisches Projekt im Rahmen von «Open Doors» vorzustellen und Produzenten kennen zu lernen, die sie finanzieren könnten.

Während fünf Tagen machten die jungen Filmschaffenden an einem Workshop mit, wo sie ihre Ideen einem kritischen Experten-Publikum vortrugen. Die Glücklichen unter ihnen können einen Geldbetrag von 15’000 Franken mit nach Hause nehmen.

Geburt des Autorenkinos

Im frankophonen Teil des Sahel hat das Kino erst ab den 1960er-Jahren Fuss gefasst, dank dem Impuls von einheimischen Regisseuren wie dem Senegalesen Ousmane Sembène.

Sein Film Borom Sarret aus dem Jahr 1967 gilt als das erste Werk, das vollständig auf afrikanischem Boden realisiert wurde. Er klagt die Ghettoisierung in den Metropolen an und die post-kolonialistische Propaganda.

«Die Regisseure damals waren offen militant», sagt Elisabeth Lequeret, Journalistin und Kritikerin aus Frankreich. «Die Filme handelten von ihren Völkern und sprachen von ihrem Boden. Es waren Werke, die das kollektive Bewusstsein wecken sollten.»

Finanziert wurden diese Projekte meist von Frankreich oder Belgien, und die Regisseure hatten, wie Gaston Kaboré aus Burkina-Faso, ihre Ausbildung in Europa erhalten.

Dieses afrikanischen Autorenkino erhielt von Beginn weg die Unterstützung der westlichen Filmkritik, zu einer Zeit, als die «Nouvelle Vague» versuchte, sich als Alternative zum Hollywood-Kino zu positionieren. Dazu gehört auch Souleiman Cissé aus Mali. Er war der erste Afrikaner, der in Cannes 1987 für Yeelen einen Preis erhielt.

Die Welt als Dorf

Die internationale Achtung, die diese Regisseure erhielten, ihr wichtiges Engagement für Zivilgesellschaft und Kunst trug zur Geburt einer Kino-Kultur mit Film-Schulen, Festivals und Übertragungssälen bei. Viel davon ist wegen der Krise und der politischen Instabilität wieder verloren gegangen. Dennoch hat sich das Kino in Ländern wie Senegal, Mali oder Burkina Faso als Kunstform etabliert.

Im Unterschied zu früher jedoch kommen die unabhängigen Filmemachenden weniger einfach an Geld, um ihre Projekte zu realisieren. Schwierigkeiten also, die nicht nur auf Afrika beschränkt sind, aber dort eher gespürt werden als in Europa.

Dennoch herrscht unter den Jungen in Locarno Optimismus. «Um die Zukunft des afrikanischen Kinos mache ich mir wenig Sorgen», sagt die junge senegalesische Regisseurin Mati Diop. Ihr Film, La Prochaine fois, Le Feu, war für Open Doors ausgewählt worden.

«In Senegal sind die jungen Regisseure sehr aktiv, besonders in den Wohnquartieren. Vielleicht gelingt es ihnen nicht sofort, sich bekannt zu machen, aber eines Tages wird sich diese Arbeit auszahlen.»

Dasselbe meint auch Coulibaly: «Wir wollen uns nicht mehr beklagen, sondern kämpfen, damit die Geschichten, die wir zu erzählen haben, auch gehört werden. Afrika ist nicht mehr wie früher mit Komplexen behaftet.»

Wunsch nach Befreiung

Nach langen Jahren im Abseits scheint das afrikanische Kino etwas von seinem ursprünglichen Boden zurückerobert zu haben, auch ausserhalb der eigenen Grenzen. Das zeigt sich auch an der Präsenz von zwei selektionierten senegalesischen Regisseuren an den Festivals in Cannes und Berlin: Alain Gomis mit Aujourd’hui und Moussa Touré mit La Pirogue, ein Film über die illegale Einwanderung.

«Die jungen afrikanischen Cineasten nehmen sich mehr Freiheit in der Auswahl ihrer Themen und ihrer Stilmittel, verglichen mit den Gründern», sagt die Open-Doors-Verantwortliche Martina Malacrida.

Zwar bleibe die politische Komponente bestehen, wie im Film von Daouda Coulibaly. Es würden jedoch auch weitläufigere Themen angegangen wie der Umgang der Generationen miteinander, der Stadt-Land-Konflikt oder die Suche nach Identität.

Der Film von Mati Diop beispielsweise erzählt die Geschichte einer Heranwachsenden, die mit dem Bleigewicht der Traditionen kämpft und nach Freiheit dürstet. «Die Themen sind ähnlich wie jene der jungen Europäer», sagt Malacrida.

Sprungbrett

Open Doors findet inzwischen zum zehnten Mal statt. In dieser Zeit kamen Filmschaffende aus Indien, Südamerika, Asien oder dem Maghreb. «Durchschnittlich fanden von zwölf jährlich selektionierten Projekten nur vier einen Koproduzenten», so Malacrida. Und auch das garantiere nicht, dass das Filmprojekte dann wirklich fertig gestellt werde.

Welche Bilanz drängt sich also aus dieser Initiative auf? «Noch ist es verfrüht, die Auswirkung von Open Doors auf die Entwicklung des Filmschaffens im Süden und Osten einzuschätzen», so Malacrida. Man rechne mit zwei bis drei Jahren, damit ein Filmschaffender sein Projekt beenden könne.

Dabei dürften sich einige verlieren und andere «mittelmässige» Filme produzieren. Doch möchte Malacrida daran erinnern, dass der Goldene Leopard 2010 an Honggi Li für Winter Vacation ging: «Dieser war im Jahr zuvor von Open Doors ausgezeichnet worden. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich der Kreis schliessen kann.»

Unter den 12 von Open Doors ausgewählten Projekten will die Jury die folgenden mit maximal 15’000 Franken fördern:

La Prochaine fois, le Feu (Das nächste Mal, das Feuer), von Mati Diop (Senegal)

Ladji Nyè (Das Auge), von Daouda Coulibaly (Mali)

Faso Fani, la fin du rêve (Faso Fani, das Ende des Traums), von Michel K. Zongo (BurkinaFaso)

Fragments de vies (Fragmente des Lebens), von Laza (Madagaskar)

2011 wurde am Filmfestival in Locarno eine weitere Initiative lanciert, die Carte Blanche. Sie schafft ein jährliches Schaufenster für Projekte aus Afrika, Lateinamerika oder Südosteuropa, die sich in der Phase der Postproduktion befinden.

In der jetzigen 65. Ausgabe des Festivals kommt Mexiko zum Zug. 

Die Präsenz des zentralamerikanischen Landes beschränkt sich jedoch nicht auf den industriellen Aspekt.

Der Film des mexikanischen Regisseurs Nicolas Pereda steht auch im Rennen um den Goldenen Leoparden, während das Publikum auf der Piazza Grande Gael García Bernal bewundern kann, im chilenischen Film No, von Pablo Larraín.

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

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