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Der archäologischen Unterwelt dicht auf den Fersen

Die Schweiz hat ihre Zollfreilager gesäubert, nachdem 1995 ein Skandal mit geraubten Kulturgütern aufgeflogen war. Die Bekämpfung krimineller Aktivitäten in diesem Bereich wird weltweit mit Informationsaustausch im Internet verstärkt.


Museen auf der ganzen Welt stellen immer noch archäologische Schätze aus, die ihnen rechtens nicht gehören. Während Regierungen sich über deren rechtmässige Eigentümer streiten, plündern Diebe weiterhin Fundstellen, um den florierenden Schwarzmarkt zu bedienen.

Jetzt versucht ein Reporter der Los Angeles Times, «WikiLoot» auf die Beine zu stellen, eine Internetseite über geraubte Kulturgüter, die von freiwilligen Informanten gespiesen wird. «Wir wollen diese Art von Kriminalität sichtbar machen», sagt Jason Felch gegenüber swsissinfo.ch.

Felch hat zusammen mit Ralph Frammolino eine fünfjährige Untersuchung durchgeführt. Daraus entstand die Publikation von Chasing Aphrodite, eine Abrechnung mit der archäologischen Unterwelt, die sich wie ein Thriller liest.

Die Aufdeckung im Jahr 1995, dass das Zollfreilager in Genf ein sicherer Hafen für ein internationales Netzwerk für geraubte Kulturgüter im Zusammenhang mit dem Getty Museum in Los Angeles war, gab den Auftakt für die Recherchen Felchs und Frammolinos.

Als im August 1995 ein ehemaliger Polizist in seinem Auto zwischen Neapel und Rom tödlich verunglückte, begann die Aufdeckung eines riesigen Schmugglerringes. Nach dem Auffinden von Beweisstücken im Auto des toten Mannes reagierte die italienische Polizei rasch und konnte die Schweizer Behörden zu einer gemeinsamen Razzia in einem Raum im vierten Stock des Genfer Zollfreilagers bewegen – die Basis einer Firma, die mit dem italienischen Antiquitätenhändler Giacomo Medici verbunden war.

In dem Zollfreilagerraum wurden Tausende von Objekten aus geplünderten Grabmälern, hauptsächlich in Italien, gefunden. Dazu, was noch wichtiger war, eine komplette Dokumentation über frühere Transaktionen, darunter solche mit den bekanntesten Museen der Welt.

Härteres Gesetz

«Medici fühlte sich in Genf so sicher, dass er extensive Akten und Fotografien von allen Objekten aufbewahrte», sagt Felch. 2004 wurde Medici schliesslich von einem italienischen Gericht zu einer 10-jährigen Haftstrafe (nach Berufung 8 Jahre) und einer Geldbusse von 10 Millionen Euro (12 Mio. SFr.) verurteilt. Italien ist immer noch daran, die Objekte zurückzuerlangen.

Als Antwort auf den Skandal im Genfer Zollfreilager erarbeitete die Schweiz 2003 ein Gesetz über den internationalen Kulturgütertransfer (KGTG) , das die entsprechende Unesco-Konvention von 1970 ins Landesrecht umsetzt. Zum Vollzug des Bundesgesetzes eröffnete die Schweiz 2005 die Fachstelle Internationaler Kulturgütertransfer beim Bundesamt für Kultur (BAK).

Zollfreilager wurden denselben Regelungen unterstellt, die für alle Importe gelten: Verpflichtung zu einer Eigentums-, Herkunfts- und Wertdeklaration. Seit 2009 ist zudem ein komplettes Inventar obligatorisch.

Benno Widmer, Kunsthistoriker und Anwalt, ist Chef der BAK-Fachstelle Internationaler Kulturgütertransfer. Er erklärt im Gespräch mit swissinfo.ch die Komplexität einer Struktur, die einerseits Teil des BAK ist, auf die Kontrollen der Schweizer Zollbehörden angewiesen ist, andererseits aber zurücktreten muss, wenn ein Betrug aufgedeckt wird und der Kanton, in dem sich das betroffene Zollfreilager befindet, ein Strafverfahren eröffnet.

Der Fall eines römischen Sarkophags von unschätzbarem Wert, den Schweizer Zöllner im Dezember 2010 im Genfer Zollfreilager entdeckten, ist aufschlussreich. Das Objekt, von Phoenix Ancient Art, einer führenden Kunstgalerie für Antiquitäten, auf den Markt gebracht, soll angeblich aus einem türkischen Grabmal geplündert worden sein.

Die Türkei hat im Rahmen einer energischen und erfolgreichen internationalen Kampagne zur Repatriierung von Kulturgütern, die das Land sein eigen nennt, den Kanton Genf aufgefordert, den Sarkophag zu beschlagnahmen. Darauf wurde ein kantonales Strafverfahren eingeleitet.

Wegen des laufenden Verfahrens kann Benno Widmer den Fall nicht kommentieren, obwohl bekannt ist, dass Bern und Ankara derzeit ein Abkommen aushandeln, das die Bedingungen für die Repatriierung von illegal aus der Türkei exportierten Kulturgütern bestimmen und die Verfahren künftig vereinfachen soll.

Schwer zu beweisen

Als 2010 in Singapur ein «Off-shore»-Zollfreilager, wo «keine Fragen gestellt werden», eröffnet wurde, befürchtete man, dass wegen der strengen Vorschriften Kunden der Schweizer Zollfreilager abgezogen werden könnten. Doch Genf ist weiterhin zu 100% ausgelastet und expandiert sogar.

Weil Länder wie die Schweiz bei Verdacht auf kriminelle Handlungen gewöhnlich Strafverfahren, und nicht Zivilverfahren, einleiten, würden Fälle oft aus technischen Gründen fallen gelassen, betont Jason Felch. Oder weil die Verbrechen schwer zu beweisen seien, insbesondere wenn die Herkunft der gestohlenen Objekte nicht identifizierbar sei.

Datenaustausch

Durch das Sammeln der Fülle von Informationen, die bereits verfügbar sind, hofft Felch, dass die Leute ermutigt werden, die Wahrheit herauszufinden. «WikiLoot» werde «Licht in den Schwarzmarkt» bringen, so der Los Angeles Times-Reporter.

Die extensiven Polizeiermittlungen, die zu Giacomo Medici und jetzt zum nicht minder notorischen sizilianischen Antiquitätenhändler Gianfranco Becchina führten, haben Millionen von Daten generiert, die vom so genannten «semantischen Web» aufgearbeitet werden könnten. Ein Instrument für Individuen und Institutionen, sich durch den Austausch von unbearbeiteten Daten und Abläufen ein kollektives Wissen anzueignen.

«WikiLoot» muss allerdings noch die eigene Finanzierung sichern. Dies, obwohl es potentielle Partner gibt.

Der italienische Staatsanwalt Paolo Ferri, der sein Land über das Ausmass und den Schaden dieser Plünderungen aufgerüttelt hat und die Razzia in Genf 1995 organisiert hatte, ist von «WikiLoot» nicht überzeugt. Er befürchtet, dass die Veröffentlichung von Informationen über Objekte dubioser Herkunft Schmuggler dazu drängen könnten, neue Geheimstrategien auszuhecken.

So lange Leute und Institutionen glaubten, sie hätten das Recht, Kulturgüter zu kaufen und folglich zu besitzen, würden Grabmäler weiterhin geplündert  und der illegale Handel weiterhin erfolgreich sein, räumt Felch ein.

«Erst wenn wir vom Konzept des Besitzes von Kulturerbe-Objekten wegkommen und akzeptieren, dass diese nicht gekauft werden können, wird der Schwarzmarkt das Interesse daran verlieren.»

Das 2003 eingeführte Gesetz über den internationalen Kulturgütertransfer (KGTG) erlaubt es der Schweiz, die Unesco-Konvention über Massnahmen zu Verbot und  Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut von 1970 zu ratifizieren.

2005 folgt eine Rechtsverordnung, die eine Eigentums-, Herkunfts- und Wertdeklaration für in die Schweiz importierte Kulturgüter für obligatorisch erklärt.

Seit 2009 ist zudem ein komplettes und jederzeit einsehbares Inventar über alle in Zollfreilagern gehaltenen Güter obligatorisch.

2003 entdecken Schweizer Zollbehörden im Zollfreilager von Genf 200 gestohlene antike ägyptische Schätze, darunter zwei Mumien. Sie wurden  Ägypten zurückerstattet.

Das «Art Loss»-Register bewirtschaftet eine permanente internationale Datenbasis von gestohlenen und vermissten Kunstwerken, Kulturgütern und Wertgegenständen. Das Register enthält auch eine Liste von Publikationen, die sich wie Spionageromane lesen.

Ein Team von Forschern an der Universität von Glasgow, Schottland, erhielt kürzlich vom Europäischen Wissenschaftsrat eine Subvention von 1 Million Pfund für vier Jahre zur Erforschung des illegalen antiken Kunsthandels.

Der türkische Kultur- und Tourismusminister Ertugrut Gunay führt derzeit eine publizitätswirksame Kampagne, die allen Ländern mit einem Nachspiel droht, sollten sie jene Schätze nicht zurückerstatten, welche die Türkei ihr eigen nennt.

Gunay handelt ähnlich wie Griechenland (Melina Mercouris Kreuzzug zur Repatriierung der Skulpturen von Parthenon – «Elgin-Marmor» – im British Museum), und Ägypten (der frühere Minister für Kulturgüter, Zahi Hawass, bemüht sich um die Repatriierung von ägyptischen Schätzen, darunter den Stein von Rosette).

Im Mai 2005 hat ein italienisches Gericht Giacomo Medici schuldig gesprochen wegen illegalen Exports, Hehlerei von gestohlenen Gütern und Verschwörung.

Illegal gehandelte italienische Kunstgegenstände wurden Italien von Museen zurückerstattet, namentlich vom New York Metropolitan Museum of Art (21 Objekte 2006), vom Boston Museum of Fine Arts (13 Objekte 2006), vom Cleveland Museum of Art (14 Objekte 2009), vom J.Paul Getty Museum (40 Objekte 2007) und vom Princeton University Art Museum (8 Objekte 2007).

«WikiLoot»-Gründer Jason Felch bedauert «die Konfusion der Themen»: Für ihn sind die Forderungen nach Rückerstattung von Kulturgütern im Zusammenhang mit historischen Verbrechen (im 19. und Anfang 20. Jahrhundert) nicht vergleichbar mit den heute anhaltenden Plünderungen von Grabmälern alleine aus Gründen des finanziellen Profits. «WikiLoot» will die Plünderung von archäologischem Kulturerbe stoppen.

(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

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