Der Blick von aussen ist schärfer als jener von innen
Die Empfindlichkeit der Schweizer gegenüber den Deutschen habe etwas fast Kindisches, sagt der Schweizer Literaturexperte Peter von Matt. Dabei sei Deutschland für Schweizer Kulturschaffende ein äusserst fruchtbarer Boden.
swissinfo.ch: Zum 1. August stellte sich die Schweizer Botschaft in Berlin dieses Jahr eine Kuh mit Schweizerkreuz aufs Dach. Zeugt dies von Humor oder vom masochistischen Zwang, veraltete Klischees zu zementieren?
Peter von Matt: Es zeugt vor allem von schlechtem Geschmack und fehlendem Stil, und von einem Grundproblem der Schweiz: der Unfähigkeit, sich von den eigenen kulturellen Leistungen her zu definieren. Wären wir Holländer, würden wir mit Windmühlen werben und als Schweden mit Elchen. Es ist traurig.
swissinfo.ch: Mit welchen kulturellen Leistungen könnte sich die Schweiz profilieren?
P.v.M.: Man denke nur, wie eindrücklich die heutige Schweiz in der Weltarchitektur präsent ist, wie etwa Herzog und de Meuron mit dem Stadion von Peking und der Arena von München das Bild der architektonischen Moderne prägen.
Oder was eine Künstlerin wie Pipilotti Rist, ein Regisseur wie Christoph Marthaler, ein Musiker wie Heinz Holliger für die Kultur der Gegenwart bedeuten.
swissinfo.ch: Sie haben in Ihrer 1.-August-Rede auf dem Rütli dazu aufgefordert, die Schweizer Mythen produktiv zu nutzen. Könnte dies auch das Verhältnis zu den Deutschen beeinflussen?
P.v.M.: Mir ging es darum, einen Mechanismus zu kritisieren, der nur noch leer läuft. Die vielen bunten Erzählungen zur Schweizer Geschichte kann man nicht einfach mit der Keule Mythos=falsch=dummes Zeug abtun.
Sie enthalten auch wichtige politische Grundmuster. Aber die Deutschen interessiert das über den Tell hinaus nicht. Sie sind allerdings daran, ihre eigenen Mythen wieder zu entdecken. Die Hermannsschlacht ist ein grosses Thema; das wäre vor zehn Jahren noch nicht möglich gewesen.
swissinfo.ch: Was können wir heute aus der Geschichte von Wilhelm Tell lernen?
P.v.M.: In dieser Geschichte steckt ein starkes machtkritisches Potential. Und die Aussage: Gegen die Arroganz der Herrschenden kann man immer etwas tun. Man muss nicht warten, bis sie einsichtig werden. Gegen Tyrannen jeder Art gibt es Hausmittelchen. Solche Denkbilder können sehr wichtig werden für das politische Verhalten in einem Staat.
swissinfo.ch: Sie sind Mitglied in mehreren Sprach-, Kunst- und Wissenschaftsakademien in Deutschland. Wann fühlen Sie sich dort als Schweizer?
P.v.M.: Ich sehe und erlebe nie einen Unterschied, werde immer voll als Mitglied anerkannt. Das betrifft alle Schweizer, die in diesen Gremien sind. Man begegnet uns mit einer Grundsympathie, die ich auch sonst in Deutschland oft erlebe.
Natürlich aber auch mit einem leisen Gefühl der Überlegenheit, nicht persönlich, sondern wegen des Grössenunterschieds. Das kann dann auch zu Momenten des Belächelns führen.
swissinfo.ch: Inwiefern sind Matthias Zschokke und Thomas Hürlimann, die in Deutschland leben und deutsch schreiben, trotzdem Schweizer Schriftsteller?
P.v.M.: Viele der wichtigsten Schweizer Bücher wurden in Deutschland geschrieben: Kellers «Grüner Heinrich», Robert Walsers Romane. Auszug und Heimkehr, das Schreiben in den europäischen Metropolen, gehört wesentlich zur Schweizer Literatur.
Zur Kunst nicht minder, wenn man etwa an Giacometti denkt, der zwischen Paris und dem Bergell gelebt hat. Der Blick von aussen, der Blick des Heimkehrers ist schärfer als der Blick der Daheimgebliebenen. Und Schriftsteller brauchen einen scharfen Blick.
swissinfo.ch: Im Verhältnis zu Deutschland betont die Schweiz gern ihre Kleinheit. Was steckt hinter dieser Bescheidenheit?
P.v.M.: So bescheiden ist das gar nicht. Oft will man dadurch nur die Erklärung provozieren, wie wichtig die Schweiz doch trotz der Grössendifferenz zu den Nachbarländern sei. Fishing for compliments nennen das die Engländer.
swissinfo.ch: Kann das angespannte Verhältnis der Schweizer zu den Deutschen auf einen Minderwertigkeitskomplex zurückgeführt werden?
P.v.M.: Als minderwertig erfährt sich die Schweiz, erfahren sich die Schweizer nicht. Sie sind gegenüber den Deutschen einfach sehr empfindlich, oft wirklich in einer fast kindischen Art. Sie haben das Klischee vom arroganten Deutschen im Kopf und aktualisieren es schon, wenn einer nur etwas laut «guten Morgen» sagt.
swissinfo.ch: Die letzte Krise im schweizerisch-deutschen Verhältnis ist durch die markigen Worte von Finanzminister Peer Steinbrück im Steuerstreit ausgelöst worden. Im September wird in Deutschland gewählt. Welche Auswirkungen könnte diese Wahl für die Schweiz haben?
P.v.M.: Viel ändern wird sich nicht. Die Differenzen im Steuersystem bleiben bestehen und damit auch die Konfliktherde. Steinbrück hat sich nicht drastischer ausgedrückt als es gewisse Schweizer Politiker tun, die man dafür bewundert.
Die Schweiz hätte schon lange sehen können, dass das Bankgeheimnis ein Auslaufmodell ist und behutsam entsprechende Massnahmen treffen können. Dass es irgendwann kracht, wenn man selber unbeweglich bleibt, ist ein Naturgesetz.
Susanne Schanda, swissinfo.ch
Peter von Matt wurde 1937 in Luzern geboren und wuchs in Stans im Kanton Nidwalden auf.
Er studierte Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich, wo er später als Professor neuere deutsche Literatur lehrte (1976-2002).
Der preisgekrönte Buchautor («Die tintenblauen Eidgenossen», «Liebesverrat», «Verkommene Söhne – missratene Töchter», «Wörterleuchten») ist Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Akademie der Wissenschaften Berlin, der Sächsischen Akademie der Künste und der Akademie der Künste Berlin.
Am 1. August 2009 war Peter von Matt Gastredner an der Bundesfeier auf dem Rütli.
Dieses Jahr wurde der Literaturwissenschafter in den Stiftungsrat berufen, der den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vergibt.
Am 27. September sind 62 Millionen Deutsche im In- und Ausland aufgerufen, die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestags zu wählen.
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden dann den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bestimmen.
Im Parlament sind 598 Sitze zu vergeben. Bundestagswahlen finden alle vier Jahre statt.
Zur Zeit sind im Bundestag sechs Parteien vertreten: CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke.
Am Wahltag stehen 80’000 Wahllokale in 299 Wahlkreisen zur Verfügung.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch