Der Dokumentarfilm «Verdingkinder» als Oral History
Einen Beitrag zur aktuellen Diskussion über das Verdingwesen leistet auch der Zürcher Historiker und Journalist Peter Neumann mit seinem Film, der im April auch vom TV-Sender 3sat ausgestrahlt wird.
Darin lässt er drei ehemalige Verdingkinder zu Wort kommen. An den «Tatorten» erinnerten sie sich an ihre Demütigungen.
Eigentlich wollte sich Peter Neumann mit der heutigen Situation der rund 15’000 Pflegekinder in der Schweiz befassen. Als er sich gefragt habe, wie es früher gewesen sei, sei er auf die Verdingkinder gestossen, sagt Neumann im Gespräch mit swissinfo. «Zudem war mein Grossvater selber ein Verdingbub, und ich war schockiert, wie schwer er es damals gehabt hat.»
Neumann war aber auch fasziniert, wie der Grossvater trotz aller schlimmsten Erfahrungen «seinen Weg gemacht habe, zuerst als Schriftsetzer, dann als Fabrik-Inspektor». Auffällig sei auch die ausgeprägte soziale Ader gewesen, die der Grossvater immer gehabt habe.
Die Verdingung ist, wie im Beispiel Neumanns, Bestandteil vieler Familiengeschichten. Aber zum kollektiven historischen Gedächtnis der Schweiz gehört das trübe Kapitel Schweizerischer Fürsorge- und Armengeschichte bis heute nicht.
Ehemalige beginnen zu erzählen
Das soll sich nun ändern. Neben Neumann haben auch Medienschaffende das verdrängte Thema aufgegriffen und eine breitere öffentliche Diskussion darüber in Gang gesetzt. In deren Verlauf haben viele Betroffene begonnen, ihr bisheriges Schweigen zu brechen. Auf einen Aufruf des Schweizer Fernsehens im Anschluss an eine Serie zum Thema haben sich jüngst rund 200 ehemalige Verdingkinder gemeldet.
Die öffentliche Debatte wollen Historiker um Marco Leuenberger (siehe Sonntags-Interview) jetzt nutzen, um auf die Dringlichkeit einer historischen Aufarbeitung des verdrängten Themas zu pochen. Leuenberger übrigens erläutert in Neumanns Film den historischen Kontext des Phänomens der Verdingung.
«Mein Film ist ein Puzzlestein im Prozess der Aufarbeitung», erklärt Peter Neumann. Film sei ein emotionaleres Medium als beispielsweise die Presse, damit könne er das Thema dem Publikum besser bewusst machen. Für ihn sei wichtig, «dass wir gerade dieses nicht sehr positive Kapitel der Schweizer Geschichte richtig aufgreifen und verarbeiten».
Neumanns Film wurde Ende Januar am Schweizer Fernsehen gezeigt. Trotz Sendezeit am späten Abend hätten ihn sehr viele Zuschauer gesehen, so der Autor. Übrigens: «Verdingkinder» ist noch einmal am Bildschirm zu sehen, am kommenden 9. April auf dem Sender 3sat.
Schwieriges Erinnern an den Stätten der Pein
In seinem Film lässt er die drei Zeugen Bethli Jau, Kasimir Kunz und Arthur Honegger über ihre Erfahrungen als Verdingkinder sprechen. Für sie sei es nicht einfach gewesen, an die Stätten ihrer Demütigungen zurückzukehren, sagt Neumann. «Bei Turi Honegger beispielsweise mussten wir sehr schnell drehen, weil wir Angst hatten, dass er uns davonläuft.»
Einen Öffnungsprozess hat er während der Dreharbeiten bei den Drei nicht ausgemacht, da dieser bereits vorher stattgefunden habe. «Sie konnten aber im Film zeigen, dass es sehr viel gebraucht hat, um über diese Vergangenheit hinweg zu kommen.»
Neumanns Hoffnung ist es, mit seinem Film beizutragen, dass es eine «historisch glaubwürdige» Aufarbeitung gebe, die zeige, wie es zu diesem Unrecht habe kommen können.
swissinfo, Renat Künzi
Peter Neumann hat bereits mehrere Dokumentarfilme für die Reihe «Spuren der Zeit» des Schweizer Fernsehens gedreht.
Darunter sind «Filmhelden im Reduit. Der Schweizer Film im Dienste der Geistigen Landesverteidigung» und «Die Schweizer Judendörfer».
Weitere Werke: «Bergpioniere. Eine Hochtour in die Schweizer Alpingeschichte» und «Grimselstrom».
Sein Film «Verdingkinder» von 2003 war Ende Januar auf SF DRS zu sehen. Am kommenden 9. April wird er auf dem Sender 3sat ausgestrahlt.
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