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Der Erzähler und Leser ist 75

Peter Bichsel ist gern in der "Beiz", ein Stammtischphilosoph ist er nicht. Keystone

Peter Bichsel, der Schweizer Schriftsteller, der sich ungern in eine Form pressen lässt, ist ein Dreiviertel-Jahrhundert alt. Der als Wenigschreiber Geschmähte aber auch Bewunderte ist dort zu Hause, wo er seinen "Ärger" hat, in Solothurn.

«Erzählen ist notwendig zum Überleben. Deshalb erzählt man wohl auch kleinen Kindern Geschichten», sagt Peter Bichsel. Für ihn ist «das Erzählen, nicht sein Inhalt, das Ziel der Literatur», wie er an seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen Anfang der 1980er-Jahre ausführte.

Er bezeichnet und fühlt sich in erster Linie als Erzähler, nicht als Schriftsteller. Auch deshalb sind seine Werke keine dicken Wälzer, sondern meist schmale, wenige Seiten umfassende Bändchen. Dies trifft auch zu für sein Erstlingswerk «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964).

Bichsel wird zu den «Miniaturisten» gezählt, in der Tradition eines Robert Walsers, eines Johann Peter Hebels.

Nur eines seiner Bücher ist gewichtsmässig ein Ausreisser: «Kolumnen, Kolumnen» ist 850 Seiten dick. Darin finden sich, gesammelt zum 70. Geburtstag des Solothurners, rund 300 Kolumnen in verschiedenen Schweizer Printmedien aus 30 Jahren. Bichsel wird 2005 angesichts dieser Fülle wohl ein wenig über sich selbst erschrocken sein.

«Lesen, lesen, lesen», beschreibt der Literat seinen Weg zum Schreiben. «Richtige Leser,» sagte er einmal, «lesen alles». Er schliesst darin Kochrezepte ein, Zeitungen, auch Sportzeitungen, Groschenromane, Reiseberichte und auch mehr oder weniger anspruchsvolle Literatur.

Wie in der «Beiz»

In seinen Kolumnen vereint er Journalismus und Literatur. Bichsel beschäftigt sich mit dem Einfachen, dem Unspektakulären, wie es oft am Stammtisch einer «Beiz», einer Kneipe, besprochen wird.

Die Sprache, die er dabei verwendet, wird auch in der «Beiz» verstanden. Aber das ist noch nicht Alles: Seine einfach komponierten Sätze können in weitere Dimensionen führen, die sich meist erst erschliessen, wenn man das Geschriebene einen Moment lang wirken lässt.

So öffnet er mit seiner Sprache seinen Leserinnen und Lesern auch ein Tor zu ihren eigenen Vorstellungen oder Fantasien. Paradebeispiel dafür sind seine «Kinderschichten» (1969).

Die Sängerin Sophie Hunger, die Schöpferin der Musik für den Bichsel-Film «Zimmer 202», hat die Geschichte «Ein Tisch ist ein Tisch» als Kind gelesen.

In der Sonntags Zeitung sagte sie: «Die Geschichte von dem alten Mann, der eines Tages zum Tisch Stuhl sagt, war eine Offenbarung für mich. Es war, als ob die ganze Welt noch einmal von vorne beginnen würde. Ich habe dort entdeckt, dass alles eine Erfindung ist.»

Nie nach Paris

Paris ist für den in seiner Stadt Solothurn tief verwurzelten Literaten ein Ort seiner Sehnsucht. Er ist ein guter Kenner der französischen Metropole. Um sich die Sehnsucht zu bewahren und wohl auch um nicht enttäuscht zu werden, hatte er sich jedoch geschworen, nie nach Paris zu reisen.

So musste Regisseur Eric Bergkraut eine grosse Portion Überredungskunst aufwenden, um den Schriftsteller umzustimmen. «Zimmer 202» zeigt die gemeinsame Reise zum Gare de l‘Est.

In Paris wohnte Bichsel im Hotel gleich neben dem Bahnhof. Und in dessen unmittelbaren Umgebung hielt er sich praktisch während der gesamten Drehzeit auf. Mehr wollte er von Paris nicht sehen, abgesehen von einem Kurzausflug in den Jardin du Luxembourg.

Es interessierte ihn, ob das Karussell mit dem weissen Holzpferdchen noch dort steht, so wie es Rainer Maria Rilke in einem Gedicht verewigt hat. Und das tut es tatsächlich.

Der Film gewährt aber auch einen Einblick ins Leben und die Gedankenwelt des Künstlers: Bichsel am Zimmerfenster, auf einer Bank vor dem Hotel, wie er dem geschäftigen Treiben zuschaut, aber nicht beobachtet. «Wenn man beobachtet, sieht man nichts», sagt er. Typisch Bichsel: Beiläufig verbreitet er seine Lebensweisheiten.

In diversen Rückblenden zeigt der Dokumentarfilm zudem den jungen Lehrer Peter Bichsel, den Schriftsteller als Redner – eine Rolle, die ihm weniger behagt als das Schreiben -, Bichsel, der sich zu Hause am Morgen immer ein vollständiges Menü kocht und natürlich Bichsel in der «Beiz», in seiner Heimat. Er bezeichnet Heimat als den Ort, «wo man seinen Ärgert hat».

Politik und Literatur

Als «höchste Form des Raffinements» beschreibt der Literaturwissenschafter Peter von Matt im Bergkraut-Film Bichsels einfache Prosa. «Sie ist so raffiniert, dass es einfach wirkt.» Diese raffinierte Einfachheit hat Bichsel weit über ein Dutzend Literaturpreise eingetragen.

Vor über 50 Jahren ist Bichsel Sozialdemokrat geworden und ist es bis heute geblieben. In die hohe Politik stürzte er sich 1973 – als Berater des Solothurner Bundesrates Willy Ritschard.

Für Ritschard schrieb er Reden, mit Ritschard ging er sonntags im Jura wandern. Bestimmt hat Bichsel mit seiner Arbeit dazu beigetragen, dass Ritschard zu einem der populärsten Politiker seiner Zeit wurde.

1981 brach Peter Bichsel seinen Ausflug in die Politik ab, ernüchtert. Während dieser sieben Jahre hatte er kein einziges Buch veröffentlicht. In einem Interview zu seinem Buch «Sonderfall ade» sagte er: «Ich mag Macht nicht. Und ich mag die Macht auch nicht ausüben, auch die Macht des Hofnarren nicht.»

Geboren am 24.3.1935 in Luzern

Kindheit verbracht in Olten

1955-1968: Primarlehrer, dann freier Schriftsteller

1964: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen»

1965: Preis der Gruppe 47, Stipendium des Lessingpreises der Freien und Hansestadt Hamburg

1966: Förderungspreis Olten

1969: «Kindergeschichten», «Des Schweizers Schweiz»

1970: Dt. Jugendbuchpreis

1973: Schweiz. Hörspielpreis

1973 bis 1980: persönlicher Berater von Bundesrat Willy Ritschard

1978: Kunstpreis Kanton Solothurn, Literaturpreis Kanton Bern

Über 30 Jahre Kolumnist bei verschiedenen Presseerzeugnissen

1979: Geschichten zur falschen Zeit»

1981/82: Stadtschreiber von Bergen bei Frankfurt/Main)

1983: Werkjahr Pro Helvetia

1985: «Der Busant»

1986: Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg

1987: Preis der Schweiz. Schillerstiftung

1993: «Zur Stadt Paris. Geschichten»

1996: Stadtschreiber-Literaturpreis Mainz

1998: «Die Totaldemokraten» Aufsätze über die Schweiz

1999: «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer», Gottfried-Keller-Preis

2000: Preis Charles Veillon, «Alles von mir gelernt»

2002: «Eisenbahnfahren»

2004: «Das süsse Gift der Buchstaben. Reden zur Literatur»

2005: Werkbeitrag Pro Helvetia, «Kolumnen, Kolumnen»

2007: «Dezembergeschichten»

2008: «Heute kommt Johnson nicht»

Bichsel war auch Stadtschreiber und Writer-in-Residence in verschiedenen tädten Europas und Amerikas

Er ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt.

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