Der Schweizer Künstler Roman Signer spielt mit Vulkanen und ertränkt Tische im Meer
Beim Schweizer Künstler Roman Signer erleben Möbel Abenteuer. Er spielt mit Vulkanen, baut Bergstürze nach und bringt Tische zum Fliegen oder zum Untertauchen. SWI swissinfo.ch traf den Künstler anlässlich seiner neuen Ausstellung im Kunsthaus Zürich.

Seit Abermillionen Jahren gibt es keine aktiven Vulkane mehr in der Schweiz. Die letzten Lavaflüsse gab es auf dem Landesgebiet, als die tektonischen Plattenverschiebungen die Alpen bildeten.
Doch 1986 konnte man auf dem Kamor, einem Berg in der Ostschweiz, eine Eruption erleben. Für zwei Minuten spie der Appenzeller Berg Feuer, als sei er der Vesuv oder Eyjafjallajökull.
Das war keine geologische Abnormität, das war Kunst: Roman Signer, heute einer der wichtigsten Schweizer Künstler, trug Schwarzpulver auf die Spitze des Bergs und schenkte der Schweiz einen temporären Vulkan.
«Ich habe es gerne, wenn die Natur sich auch destruktiv zeigt in ihrer Kraft, zum Beispiel als Erdrutsch oder Lawine. Ein lieblicher Fluss kann bei Hochwasser ein reissender Fluss werden, er bleibt nicht immer brav. ‹Achtung! Ich bin jemand›, sagt die Natur dann», sagt Signer im Gespräch mit SWI swissinfo.ch bei der Eröffnung seiner neusten Ausstellung.
Einer der international bedeutendsten Schweizer Künstler
Lange galt Roman Signer als kauziger Bastler aus der Ostschweiz. Von Schweizer Medien wird er bis heute als «Lausbub» belächelt.

Doch Signer ist einer der international bedeutendsten Schweizer Künstler. Von Kunstsammelnden ebenso geschätzt, wie von einer sonst eher kunstfernen Fangemeinde im Internet.
Seinen ersten Durchbruch erlebte er an der Documenta 1987, als er stapelweise Papier durch die Luft sprengte und damit für kurze Zeit eine «Papierwand» errichtete.
Signer ist FeuerwerkExterner Link zugetan. In einem Video lässt er sich eine Mütze von einer Rakete vom Kopf reissen; in einem anderen dreht Feuerwerk seinen Bürostuhl und ihn im Kreis.

Viele seiner Werke zeigen einen kurzen Handlungsbogen, wie Slapstick. Was ihnen heute auch auf Social-Media-Plattformen einiges an Aufmerksamkeit einbringt. In der Schweiz wird er oft wahrgenommen als «explosiver» Künstler, der vor allem unterhaltsam ist.
Die Reduktion auf den Sprengmeister der Nation verbittet sich Signer mittlerweile: Bei der Eröffnung seiner aktuellen Ausstellung im Kunsthaus Zürich wurden die Medien darum gebeten, Titel, die auf Explosionen und Sprengungen anspielen, doch bitte zu unterlassen. Das werde Signers Werk nicht gerecht.
Ruhige «Landschaft» und zerstörte Weihnachtskugeln
Der Titel der neuen Ausstellung ist auch dezidiert ruhig: «Landschaft». Im Museum wird die Umgebung normalerweise ausgeblendet.
Doch für diese Ausstellung steht der Raum des Zürcher Kunsthauses weit offen. Die Fenster zeigen die Stadtumgebung, Bäume und Autos, Sonnenlicht fällt hinein. Auch Stellwände sind keine zu sehen.
Nur ein einziges Kunstwerk muss hinter weissen Wänden und Glas bleiben – zum Schutz des Publikums: An der Eröffnung liess Signer einen geschmückten und motorisierten Weihnachtsbaum so schnell dreideln, dass dieser die Kugeln abschüttelte.
Die Kugeln verbleiben zerstört am Boden.

Signer hat immer wieder klar gemacht: Die Natur ist nicht nur eine grosse Inspiration für ihn, sondern Ko-Autorin. Sie vollendet mit ihren Kräften seine Arbeit. Mit Natur zu arbeiten, kann bei ihm auch bedeuten, sich der Schwerkraft auszusetzen.
Wie bei jener Aktion, in der Signer eine Fischerhose trägt, die sich langsam mit Wasser füllt – bis ihn die Schwerkraft zu Boden drückt und er strauchelt. Oder wenn Signer einen Erdrutsch nachbaut.
Teil des Aufbruchs in den 1970ern
Zur Kunst kam Signer spät. 1938 geboren, entschied er Mitte der 1960er-Jahre – in Reaktion auf eine Krankheit – Bildhauerei zu studieren. Mit seiner Kunstschul-Klasse besuchte er 1969 die epochenmachende Berner Ausstellung von Harald Szeemann, «When attitudes become form».
Das Ereignis trat in den Mittelpunkt, die Skulptur verlor ihre Statik und individuelle Mythologien wurden wichtiger. Künstler:innen forschten wie Wissenschaftler an ihren eigenen Theorien, wie beispielsweise Joseph Beuys.
Der Beitrag des Schweizer Fernsehens über «When attitudes become form» von 1969:
Viele sehen sich bei Signer an Beuys erinnert. «Natürlich hab ich von Joseph Beuys gehört und habe das auch geachtet», sagt Signer, «Natürlich gab es Einflüsse, ich bin ja kein neutraler Raum. Aber ich nehme mir die Freiheit, verschiedenen Geistesströmungen anzugehören, man muss auf die eigene Stimme hören.»
Signers Kunst ist Teil des Aufbruchs in der Kunst um 1970. Seine Nutzung der Landschaft als Atelier lässt Signer als Vertreter der Land Art erscheinen.
Doch anders als zum Beispiel Robert Smithson hinterliess Signer nie etwas in der Natur, es bleiben keine Spuren von ihm zurück. Er macht Performance-Art. Da ihm bei Auftritten nie besonders wohl war, filmte er seine Aktionen.
Ein Bildhauer von Ereignissen
Ab den 1970er-Jahren begann Signer, kleine «Ereignisse», wie er sie nannte, mit seiner Super-8-Kamera aufzunehmen. Er sprengte Stühle in die Luft, er liess Ballone Eischichten durchbrechen, Brücken niederbrennen.

So wenig ihn seine kunsthistorische Einordnung interessiert, so deutlich ist für Signer, welches Handwerk er betreibt: «Ich sah mich immer als Bildhauer, also nicht als so einen…» – Signer macht eine Geste, als würde er hämmern. Bildhauer sei «heute ja ein grosser Begriff. Auch Video kann Skulptur sein.»
Die Schau im Zürcher Kunsthaus setzt stark auf statische Objekte. Doch im Mittelpunkt seiner Skulpturen steht für Signer der Moment der Veränderung.
Auch leise Formen der Verwandlung interessieren ihn: Deutlich wird das in einer Aktion, in der Signer 35 Tage lang eine Zündschnur von Appenzell nach St. Gallen brennen liess. Unterwegs entflammte sie 200 kleine Schwarzpulverkegel auf dem Weg. Der grosse Knall blieb aber aus. Die Skulptur zeigte vor allem eines: eine lange Weile.
Seine Arbeiten wirken oft wie grandiose Fluchten aus der Alltäglichkeit. In einer bindet er im Sturm zwei Schirme mit Klebeband zusammen, so, dass der eine Schirm den anderen vom Wind getrieben voranstürmt und der andere ihm widerstrebend folgt, gemeinsam rasen sie ihrem Erschaffer davon.
Befreier der Dinge
Eine Geschichte, die fast jedes Schweizer Kind irgendwann mal in der Schule lesen musste, erzählt von einem alten Mann, dem das Leben zu langweilig wird, so sehr, dass er wütend schreit: «Es muss sich etwas ändern.»
Er beginnt, die Dinge um ihn herum umzubenennen, das Bett nennt er nun «Bild», den Tisch «Teppich», den Stuhl «Wecker». Die Geschichte endet melancholisch, in Sprachverwirrung und Einsamkeit.
Der Text des Schweizer Schriftstellers Peter Bichsel erschien in der Zeit der 1968er-Revolte als Kindergeschichte für Erwachsene voll lakonischer Wut.
Signers Arbeiten haben auf ähnliche Weise etwas Anti-Autoritäres. Doch er schenkt den Objekten mehr Freiheit: Signer benennt sie nicht nur um, er nutzt sie auch nicht bloss wie Marcel Duchamp sein Pissoir – als Stichwortgeber für einen Kommentar über Wahrnehmung.
«Bei Signer werden die Objekte zu Charakteren, der Tisch wird zu einem Seefahrer auf dem Eismeer, andere Objekte beginnen zu fliegen. Die Dinge befreien sich aus ihrem Bedeutungsumfeld, das sind gewissermassen Minirevolutionen», sagt Mirjam Varadinis, die Kuratorin der aktuellen Ausstellung.

Signer selbst schildert die Dinge in verschiedenen «Aggregatszuständen»: «Es gibt den fliegenden Tisch, den schwimmende Tisch, es ist nicht beliebig, ich muss öfters darüber nachdenken, bevor ich mit einem Tisch etwas mache.»
So ein Tisch sei auch etwas vielschichtiges: «Der Tisch, wie ich ihn brauche, ist kein eleganter Tisch, es ist ein familiärer Küchentisch, ein Symbol für die Familie. Man isst Suppe, diskutiert, hat Probleme – finanzielle und andere.»
Manchmal sprengt er den Tisch in die Luft, mal lässt er ihn von Ballonen entführen oder durch Drohnen fliegen. Manchmal lässt er den Tisch auch davon treiben: «Ich habe diesen Tisch nie wieder gesehen. Nur dass sich die Wellen bewegen, irgendwann ist er sicher untergegangen, auf den Meeresgrund, ich habe ihn dem Schicksal überlassen, habe ihn ausgesetzt.» Und man glaubt, ein leises Bedauern zu hören, wenn er das sagt.
Editiert von Benjamin von Wyl
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