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Der Mann aus Shanghai: Wie Marco Müller die Zukunft des Kinos sät

Marco Müller mit Regenschirm
China immer im Hinterkopf: Marco Müller bei einer Premiere, als er künstlerischer Leiter des Filmfestivals von Venedig war (2011). Keystone-EPA/Claudio Onorati

Nachdem er Generationen von Filmemacher:innen auf der ganzen Welt gefördert hat, zieht der ehemalige Direktor des Filmfestivals von Locarno nun die neue Generation des chinesischen Kinos heran, die China schon bald zur grössten Filmindustrie der Welt machen könnte.

Es ist nicht schwer, Marco Müller während des Filmfestivals von Locarno zu finden. Er verbringt seine Tage und Nächte mit der Sektion Retrospektive, die schon vor seiner Amtszeit (1992-2000) zu den Höhepunkten von Locarno gehörte und die dieses Jahr 40 Glanzstücke aus den glorreichen Tagen von Columbia Pictures zeigt.

Müller kam als Gast aus China nach Locarno. Seit über fünf Jahren lebt er im Land der Mitte. Seine Mission ist es, wie der Propagandaminister des Stadtkomitees von Shanghai 2014 erklärte, das grösste Filmfestival der Welt zu schaffen.

«Sie sagten, wenn Toronto 300 Filme hat, lasst uns 400 in neun Tagen zeigen», sagt er gegenüber SWI swissinfo.ch. «Aber meine Vorstellung von Karma ist, dass man nicht mehr als 60 oder 70 Filme zeigen sollte, abgesehen von den Retrospektiven. Man kann nicht zu viele Sachen zeigen.»

Dieser bescheidene Umfang mag im Widerspruch zu den Ambitionen des zweitgrössten Filmmarktes der Welt stehen. Im vergangenen Jahr wurden an den chinesischen KinokassenExterner Link mit 1,3 Milliarden Besuchenden 7,73 Milliarden US-Dollar eingenommen. Zum Vergleich: In den USA waren es im gleichen Zeitraum über 9 Milliarden US-Dollar bei 240 Millionen Zuschauer:innen.

Auf chinesische Filme entfielen 84% der Gesamteinnahmen, und die Besucher:innenzahlen ausländischer Filme haben sich seit 2022 nicht verändert.

Müller kümmert sich jedoch weder um die Einspielergebnisse noch um den sich wandelnden Geschmack des chinesischen Publikums.

Er ist Trainer und Produzent aus Berufung und spielt eher in einer Liga mit Weltklasse-(Fussball-)Trainern wie Pep Guardiola oder José Mourinho als mit irgendeinem anderen seiner Kollegen im Filmgeschäft.

Seine Initiativen wurden in Cannes, Venedig, Berlin und sogar mit einem Oscar (für den besten ausländischen Film mit No Man’s Land, 2001) ausgezeichnet. «Ich bin dort wirklich glücklich, weil ich gelernt habe, wieder als Produzent zu arbeiten und das Geld zu nutzen, das in China zu finden ist», sagt er.

Filmszene
Müllers Oscar: «No Man’s Land» (2001) von Danis Tanovic, spielt in Sarajevo während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien. Credit: Album / Alamy Stock Photo

Marco Polo

Müller gehörte zu den ersten Italienern, die nach der Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern Anfang der 1970er Jahre, direkt nach der Kulturrevolution, in China studierten.

Der damalige Anthropologiestudent begann, mit seinen Kommiliton:innen Vorführungen chinesischer Filme zu besuchen, von denen einige später zu weltweiten Sensationen werden sollten. Auch dank Müllers Einsatz.

In den 1980er Jahren organisierte der Italiener mit schweizerisch-brasilianischen Wurzeln die ersten und umfangreichsten Veranstaltungen des chinesischen Kinos im Westen, wo Namen wie Zhang Yimou, Chen Kaige und Wu Tianming, allesamt alte Weggefährten Müllers, in den 1990er-Jahren bereits zu einem Begriff unter den Kinogänger:innen wurden.

Seine Rückkehr nach China begann schleichend im Jahr 2014 und wurde 2021 endgültig, als er begann, das Film Art Research Centre der Universität Shanghai zu leiten und an der Shanghai Film Academy zu unterrichten.

Zuvor war er Festivaldirektor des chinesischen Pingyao International Film Festival und gründete vor kurzem das Asia-Europe Young Cinema Festival in Macau.

In diesem Jahr wurde er auch zum künstlerischen Leiter des Filmfestivals von TaorminaExterner Link auf Sizilien (Italien) ernannt und behält gleichzeitig seinen Lehrauftrag an der Akademie für Architektur der Università della Svizzera Italiana in Mendrisio.

Dieses weitreichende Netzwerk dient nicht nur dem Sammeln prestigeträchtiger Aufträge, sondern auch Müllers Mission, Filmschaffende aus dem globalen Osten, Westen und Süden zu verbinden.

In ihrer wirtschaftlichen Raison d’être sind Filmfestivals vor allem ein Marktplatz-Ökosystem, in dem Produzent:innen, Verleiher:innen, Vertriebsagent:innen und Einkäufer:innen zusammenkommen, und der Coach weiss sehr gut, wie man sich zwischen all diesen Akteur:innen bewegt.

Marco Müller und Zhang Yimou
Marco Müller lud den chinesischen Regisseur Zhang Yimou ein, den Vorsitz der internationalen Jury der 64. Filmfestspiele von Venedig (2007) zu übernehmen. Keystone/Luigi Constantini

Zugunsten der Jugend

Müller scheint sich von den Zwängen, die mit der Arbeit in einer stark staatlich kontrollierten Filmindustrie wie der chinesischen verbunden sind, nicht beeindrucken zu lassen.

«Man muss einen Weg finden, mit ihnen zu arbeiten. Mein Weg war, dass ich mich immer für die neuen Indie-Filmemacher und Produzenten in China eingesetzt habe, und das war möglich», sagt er.

Im Januar veranstaltete er die erste Ausgabe des Asia-Europe Young Cinema Festival in Macau. Wie Müller erklärt, hat das Etikett «Asien-Europa» eine subtile geopolitische Bedeutung.

«Es ist nicht so, dass ich der Regierung nicht gefallen wollte, aber wenn ich die offiziellen Bezeichnungen wie ‹Seidenstrasse› oder ‹BRICS› verwenden würde, gäbe es [im Ausland] eine Menge Widerstand. In gewisser Weise habe ich das traditionelle russische Konzept von Eurasien umgedreht, wenn ich Asien-Europa sage. Und es hat funktioniert.»

Das Abkommen zwischen China und Portugal über die ehemalige Kolonie, das mit dem Abzug der Portugies:innen im Jahr 1999 in Kraft trat, bietet auch eine besondere Offenheit im Vergleich zum Rest des Landes.

«In Macau habe ich ein spezielles Programm für neue Filmemacher aus China zusammengestellt, unabhängig davon, ob sie Mitglieder der China Film Directors Association sind oder nicht, damit sie sich mit Filmemachern aus dem Ausland treffen und Filme sehen können, die offiziell nicht zu sehen sind.»

Über Macau könne man auch chinesische Privatmittel für prestigeträchtige Projekte finden, selbst für solche von neuen Regisseuren, so wie es früher über Hongkong möglich gewesen sei, sagt Müller.

«In diesem Sinne ist das Wichtigste unser Work-in-Progress Lab mit 16 laufenden Arbeiten, die auf allen wichtigen Festivals der Welt gezeigt werden. Da diese Filme gerade fertiggestellt werden, gehen sie als nächstes nach San Sebastian, Berlin und hoffentlich Cannes.»

Marco Müller mit der Schauspielerin Zhu Xijuan auf einer Bühne
Zu Hause: Marco Müller mit der Schauspielerin Zhu Xijuan während der Abschlusszeremonie des 24. Shanghai International Film Festival, Juni 2021. 2021 Vcg

Für eine Handvoll Franken

Wenn man in einem Café in Locarno über China spricht, fühlt es sich plötzlich an, als würde man über Science-Fiction-Filme reden.

Die Realitäten der Filmindustrie in China und in der Schweiz könnten nicht gegensätzlicher sein. Während in China private Gelder fliessen und das Engagement der Regierung unübersehbar ist, wird in Locarno während dieses Festivals über eine drastische Kürzung der Bundesmittel für die internationale kulturelle Zusammenarbeit gesprochen.

Diese Mittel werden von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZAExterner Link), einer Abteilung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, verwaltet und nach einem Modell verteilt, das Müller seit Anfang der 1990er-Jahre in der Schweiz entwickelt hat.

Es zielt darauf ab, die Entwicklung und Produktion von künstlerischen Werken junger Talente in Ländern mit einer schwachen Kultur- und Filmindustrie zu fördern.

In den ersten Tagen des Festivals, letzte Woche, veröffentlichte eine Gruppe von zwölf Schweizer Kulturpartnern im Rahmen der DEZA eine Erklärung, in der sie die Kürzung des Fonds beklagte.

In absoluten Zahlen und in Anbetracht des gesamten Bundeshaushalts klingt der Betrag wie ein Klacks: bescheidene 1,7 Millionen Franken (2 Millionen US-Dollar).

Aber er bedeutet eine Kürzung des Budgets für die Kulturproduktion um 45% und betrifft einige Programme, die das Profil der Schweiz erfolgreich geschärft haben, wie das Programm Open DoorsExterner Link in Locarno und das Theater SpektakelExterner Link in Zürich. Für einige andere, wie die Plattformen artlinkExterner Link und Visions Sud EstExterner Link, stellen die Kürzungen eine existenzielle Bedrohung dar.

„Die Dinge haben sich hier definitiv geändert», sagt Müller, während er sich an die Umsetzung einer Idee erinnert, die er vor langer Zeit entwickelt hat.

«Eigentlich war die Idee ganz einfach», sagt Müller. «Wenn wir 300 Franken von privaten Investoren auftreiben könnten, würde die DEZA uns 300 geben, und so weiter. Das hat mir wirklich geholfen, sehr überlegt mit dem Geld umzugehen.»

So gründete er die Fondazione Monte Cinema Verità und setzte ein Komitee aus Expert:innen für Produktion und Finanzierung ein, darunter auch eine Person des Schweizer Fernsehens.

Die goldene Gans töten?

In der Folge begannen Schweizer Produzent:innen, Filme aus dem globalen Süden und Osten zu koproduzieren.

«Die Tatsache, dass die DEZA uns gezwungen hat, private Partner zu haben, war sehr gesund, denn es hat uns angespornt, weiterhin Verantwortung für jedes einzelne Projekt zu übernehmen.»

Die beiden Männer auf einer Schwarzweiss-Aufnahme.
Locarno, 1992: Marco Müller wird auf Einladung von Raimondo Rezzonico, dem damaligen Präsidenten des Festivals, zum künstlerischen Leiter ernannt. «Rezzonico war sehr grosszügig, aber bezogen auf die Unterstützung von neuen Produktionen sagte er nein. Für ihn sollte das Festival nur das Festival sein. Wenn du Geld auftreiben willst, sagte er, dann mach es selbst. Also habe ich die Fondazione Monte Cinema Verità gegründet.» Keystone

Das Modell wurde dann von anderen Institutionen kopiert, die sich nicht nur mit Film, sondern auch mit Theater, bildender Kunst und Literatur beschäftigen.

Visions Sud EstExterner Link hat den Modus Operandi von Müllers Fondazione übernommen, als diese 2004 ihre Tätigkeit einstellte. Die Existenz der Kultureinrichtung ist nun durch die jüngsten DEZA-Kürzungen bedroht.

Selbst kleinere Beträge (in der Grössenordnung von 20’000 bis 50’000 Franken), die von der Stiftung gesammelt werden, werden mit dem DEZA-Beitrag verdoppelt, und das bedeutet ein anständiges Startkapital, um einen Film zu entwickeln, vor allem bei Projekten, die, wie Müller es beschreibt, «niemand sonst zu finanzieren wagt oder die im Herkunftsland nicht finanziert werden konnten, weil die Filmemacher gewisse unbequeme oder zensierte Wahrheiten aussprechen wollten».

Müller kann nur aus der Ferne beklagen, wie das von ihm geschaffene Modell demontiert wird. «Aber ich denke, dass die Privatwirtschaft Stellung beziehen sollte. Seit über 20 Jahren sind private Investoren Teil des Fonds, also sollten auch sie ihre Enttäuschung über diese Kürzungen zum Ausdruck bringen.»

Müller schaut auf die Uhr, die nächste Vorführung der Retrospektive beginnt gleich. Der Coach versucht, seine Gedanken zusammenzufassen.

«Die Geschichte, die ich Ihnen erzähle, hat mit individuellen Bemühungen zu tun und mit der Zeit, als die Schweiz es sich leisten konnte, den Raum für internationale Workshops anzubieten. Aber auch wenn sich die Zeiten geändert haben, sehe ich wirklich keinen Grund, warum wir dieses Erfolgsmodell aufgeben sollten.»

Editiert von Mark Livingston, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger

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