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«Der Schweizer Film ist heute internationaler»

Porträt Niccolo Castelli
Niccolò Castelli, der neue künstlerische Leiter der Solothurner Filmtage, ist auch Filmregisseur, Autor und Cutter. © Thomas Kern/swissinfo.ch

Das jährliche Schaufenster des Schweizer Films in Solothurn läuft seit dem 18.Januar. Der neue künstlerische Leiter Niccolò Castelli erklärt im Interview, wie ihm seine Erfahrung als Filmemacher hilft, sich in einem ständig verändernden Filmmarkt zur orientieren.

Niccolò Castelli hat Filme produziert, Regie geführt und auch geschnitten. Doch er sieht sich selbst vor allem als Geschichtenerzähler, schon seit dem Beginn seiner beruflichen Karriere, die als Radiojournalist begann.

Seine neue Rolle als künstlerischer Leiter der Solothurner FilmtageExterner Link, an denen die besten Produktionen des Schweizer Filmschaffens des vergangenen Jahres gezeigt werden, ändert nichts an dieser Selbsteinschätzung.

«Ich sehe meine Aufgabe jetzt darin, eine Woche lang eine Geschichte zu erzählen», sagt er. «Mit der Zusammenstellung der Filme erzählen wir eine grosse Geschichte über das Schweizer Kino im letzten Jahr.»

Niccolò Castelli wurde 1982 in Lugano im Kanton Tessin geboren. Er begann seine Karriere 1998 als Journalist für das italienischsprachige öffentliche Radio und Fernsehen in der Schweiz (RSI).

In den folgenden Jahren war er an der Produktion einiger Spielfilme beteiligt. Zudem schrieb er Drehbücher und führte Regie bei Kurzfilmen, Dokumentarfilmen, Reportagen und Musikvideos.

Tutti Giù – Everybody Sometimes FallsExterner Link (2012), war sein erster Spielfilm. Sein zweiter Spielfilm, AtlasExterner Link (2021), eröffnete die Solothurner Filmtage und wurde an vielen Festivals gezeigt, unter anderem beim 74. Locarno Film Festival.

Seit 2021 ist er auch Direktor der Tessiner Filmförderung Ticino Film CommissionExterner Link, zusätzlich zu seiner Arbeit als künstlerischer Leiter der Solothurner Filmtage.

Filmfestivals sind schon für Filmfans eine Anstrengung, aber für die Auswahlteams eine regelrechte Herausforderung. Castelli und sein Team haben 642 Filme angeschaut, um 217 Filme auszuwählen, die zwischen dem 18. und 25. Januar gezeigt werden.

Die Visionierung von Filmen ist nicht einmal das schwierigste Element. Die Filmwelt durchläuft momentan revolutionäre Veränderungen. Es gibt neue Geschäftsmodelle und Marktteilnehmende, allen voran die Streaming-Unternehmen – so wie Netflix, HBO, Disney, Apple und Amazon.

Das hat die Art und Weise, wie Filme vertreiben und geschaut werden, völlig verändert. Laut Castelli befindet sich der Markt in einem ständigen Umbruch. Die Filmfestivals müssten sich anpassen, um nicht an Bedeutung zu verlieren.

Porträt Niccolò Castelli
Niccolò Castelli: «Was wir jetzt [mit dem Filmvertrieb] erleben, ähnelt dem, was vor 20 Jahren mit der Musik geschah.» © Thomas Kern/swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch: Am 8. Dezember wurde der via Crowdfunding finanzierte Schweizer Film Mad HeidiExterner Link online veröfentlicht. Kann man sagen, dass der Film ein Meilenstein des Scheweizer Kinos ist, weil er Produktions- und Vertriebskonzepte auf den Kopf gestellt hat?

Niccolò Castelli: Ich denke, es handelt sich um einen von mehreren Filmen, die ganz neue Wege beschreiten. Die Produktion von Mad Heidi war wirklich clever, eine der ersten grossen Crowdfunding-Produktionen der Welt.

Aber es gibt auch andere Möglichkeiten: Die Annahme der Lex Netflix (im Mai 2022 hat das Stimmvolk ein Gesetz angenommen, das internationale Streaming-Dienste zwingt, einen Teil des in der Schweiz erzielten Umsatzes in die Schweizer Filmindustrie zu investieren) hat die Anbieterinnen und Anbieter bewogen, sich für unser Filmschaffen zu interessieren.

Wir haben eine ganze Reihe von Filmen im Programm, die in Koproduktion mit Streamingdiensten entstanden sind, auch in den wichtigsten Wettbewerbssektionen. Polish PrayersExterner Link ist zum Beispiel eine Koproduktion mit HBO EuropeExterner Link.

Bis vor einigen Jahren gab es in der Schweiz praktisch nur eine Möglichkeit, einen Film zu produzieren: Es brauchte Geld vom Bundesamt für Kultur, von einer der verschiedenen Filmstiftungen und von der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG (zu welcher SWI swissinfo.ch als Unternehmenseinheit gehört).

Doch nun denken auch grosse Produktionsfirmen darüber nach, wie sie Filme auf andere Weise finanzieren und produzieren können. Wir erleben tatsächlich einen grossen Prozess der Veränderungen.

Ändern diese unterschiedlichen Geschäftsmodelle auch das Verhandlungsgewicht für ein Filmfestival?

Der übliche Vertriebsweg für einen neuen Film war: Start auf Filmfestivals, dann Kino, danach Fernsehen und schliesslich online und/oder DVD. Mad Heidi hatte seine Premiere bereits online und wurde danach in einigen Kinos gezeigt.

Das zwang uns, auf eine neue Art und Weise zu verhandeln. Wir mussten lernen, dass wir Teil einer horizontaleren Vertriebskette sind, in der es keine Fixpunkte mehr gibt. Bei jedem Film ist es anders.

Ein weiteres Beispiel: Natural Born DriverExterner Link wird von Sky DocumentariesExterner Link koproduziert und ist bereits auf der ganzen Welt online zu haben. Doch Sky hat beschlossen, diesen Film in der Schweiz während der Festivalzeit zu sperren.

Die Schweizer Produzenten besitzen nicht die Rechte am Film, aber sie baten Sky, die Solothurner Filmtage abzuwarten. Es ist der erste Spielfilm des Regisseurs, also ist die Lancierung auf unserem Festival wichtig für seine Karriere. Es ist also möglich, zu verhandeln, aber die Filmwelt ist nicht mehr wie früher.

Welche Aspekte müssen Sie neu berücksichtigen, wenn Sie einen Film für das Festival gewinnen wollen?

Die meisten Filme folgen immer noch dem klassischen Muster. Aber es stellen sich neue Fragen, etwa diese: Warum sollte ich einen Film zeigen, wenn er bereits online verfügbar ist? Es gab tatsächlich einige Filme, die bereits gratis überall verfügbar waren. In diesem Fall berücksichtigen wir sie nicht.

Doch es gibt auch Filme, die einzig auf kleinen Plattformen oder Nischenplattformen verfügbar sind. Wir zeigen diese mit einer anschliessenden Gesprächsrunde, damit die Zuschauer:innen mehr über die Filme erfahren können.

Bedeutet das, dass Sie als Festivaldirektor proaktiver sein müssen, anstatt nur aus eingereichten Filmen eine Auswahl zu treffen?

Ganz sicher. Und ich glaube auch, dass dies der Grund ist, warum ein Filmemacher wie ich ernannt wurde, um die künstlerische Leitung von Solothurn zu übernehmen. Ich habe Filme produziert, ich habe Filme gedreht und Erfahrungen mit internationalen Koproduktionen gesammelt.

Ein Filmfestival muss ein Gespür dafür haben, wie die Branche funktioniert. Wir müssen proaktiver sein, aber wir müssen auch diesen Streaming-Plattformen, Verleihern oder Vertriebsagentinnen etwas geben. Das ist eine Menge mehr Arbeit.

Eine der Innovationen der Solothurner Filmtage in diesem Jahr ist die Möglichkeit, die Reichweite des Festivals im Ausland digital über ein B2B-Modell (Business-to-Business) zu erweitern.

Über die Online-Plattform Festival Scope ProExterner Link können Filmprofis (Festivalmachende, Weltvertriebe, Filmschaffende, Presseleute, Verleiher, Botschaften, Filmclubs) die Filme der Hauptsektionen (Prix de Soleure und Opera Prima) überall auf der Welt sehen und vorführen.

Wie haben die Verleiher und die Streaming-Dienste auf diesen Ansatz reagiert?

Vertreter:innen von Produktionsfirmen und Streaming-Diensten fragen immer zuerst, wie es um die Wahrnehmung ihres Films bestellt ist. Wie steht es um die Promotion? Werden die Medien berichten?

Das heutige Problem ist, dass es sehr viele Streaming-Plattformen und Fernsehsender gibt. Das schafft eine Unübersichtlichkeit. Wie kann ich also das Publikum erreichen? Wie können die Zuschauer:innen erfahren, dass ein bestimmter Film gedreht wurde und verfügbar ist?

Natural Born Driver handelt beispielsweise von einem Formel-1-Fahrer aus den 1980er-Jahren in Italien. Niemand weiss, dass ein Schweizer Filmemacher und eine Schweizer Crew hinter dem Film stecken.

Dank den Solothurner Filmtagen können sie also ein neues Publikum erreichen, das sich vielleicht nicht so sehr für das Thema, aber mehr für die Filmproduktion und den Herkunftsaspekt «Swiss Made» interessiert.

Plakat in 3 Sprachen
Plakate für die Solothurner Filmtage 2023 in drei Sprachen. Solothurn Film Festival

Im Programm erwähnen Sie globale Themen wie Sexualität, Rassismus, Klassenkampf, Identität, Gender und Generationen, die am diesjährigen Festival in den Filmen zur Sprache kommen. Gibt es auch spezifisch schweizerische Themen?

Wenn ich den Schweizer Film von vor 20 oder 30 Jahren mit den aktuellen Produktionen vergleiche, dann zeigt sich, dass es meist um eine Schweizer Perspektive auf die Welt ging.

Die Filme wurden meist von Regisseuren gemacht, die um die 40 oder 50 Jahre alt waren, ihre Wurzeln in der Schweiz hatten und hinausgingen, um die Welt zu entdecken. Oder sie blieben in der Schweiz und entdeckten Aspekte der Schweizer Identität.

Jetzt haben wir eine neue Generation, und die meisten Regisseurinnen und Regisseure sind zwischen 25 und 40 Jahre alt. Die meisten von ihnen sind Schweizer:innen oder in der Schweiz geboren, aber mit Wurzeln im Ausland. Mindestens 50 Prozent der Filmschaffenden haben diese Wurzeln im Balkan, in Russland, Portugal, Italien oder Georgien.

Diese Filmschaffenden, die in ihren Filmen Geschichten erzählen, haben die Welt also bereits in ihren Wurzeln. Die Perspektive, der Blick, den wir auf die Welt haben, ist völlig anders. Denn nicht nur die Koproduktionen sind international, sondern auch die Autorinnen und Autoren.

Wie zeigt sich das in den Filmen?

Es ist eine horizontalere und meines Erachtens auch ehrlichere Perspektive. Es ist nicht mehr so, dass die kultivierten Leute aus der High Society auf die Welt schauen.

Diese Entwicklung führt zu interessanten Konstellationen. Schauen wir nur mal auf den Fussball: Die Nationalmannschaft ist schweizerisch, hat aber viele verschiedene Wurzeln.

Es gibt viele Identitäten innerhalb der Schweiz, und ich denke, viele Menschen, die nach Solothurn kommen, werden mit dieser Frage konfrontiert: Was ist die neue Identität der Schweiz? Und mit dieser Frage: Was ist die «neue Neutralität» der Schweiz?

Und was ist die neue Neutralität?

In der Vergangenheit war die Schweiz nicht wirklich ein Teil der Welt. Wir waren diese Insel in der Mitte Europas, auf der nichts passiert, aber wir konnten neutral sein und Leute empfangen, um über globale Themen zu sprechen.

Jetzt sind wir ein Teil der Welt. Neutral zu sein bedeutet also auch, sich zu engagieren. Und der Schweizer Film kann in dieser Diskussion eine Rolle spielen.

Wer sich die Programme von früheren Ausgaben der Solothurner Filmtage anschaut, bemerkt, dass sich die Mehrheit der Schweizer Filme – meist Dokumentarfilme – mit Themen ausserhalb der Schweiz beschäftigten. Aber jetzt sehen wir diesen Trend auch bei den Spielfilmen. Sehen Sie das auch so?

Auf alle Fälle. Das ist eine Folge der Demokratisierung der Spielfilmproduktion. Früher brauchte man sehr viel Geld, um Spielfilme zu drehen. Jetzt gibt es sehr gute Ausrüstungen zu erschwinglichen Preisen, und mit einem geringen Budget lassen sich Filme für ein grosses Publikum machen.

Der Prix du Publique zum Beispiel ist eine Sektion, die sich mit aufwändigen Produktionen über eine grosse Leinwand an ein grosses Publikum wendet. Jetzt lassen sich mit Low-Budget-Filmen grosse Geschichten erzählen.

Wir konzentrieren uns auf die Story, auf die die Themen, auf das, was ein Film uns gibt. Technische Aspekte sind immer noch wichtig, aber es gibt heute mehr Freiheiten.

  • Amine – Held auf Bewährung (Dani Heusser, Dokumentarfilm). Ein guineischer Asylbewerber in der Schweiz versucht, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen.

  • Big Little Women (Nadia Fares, Dokumentarfilm). Drei Generationen von Frauen, die in der Schweiz und in Ägypten die Regeln des Patriarchats übertreten.

  • A Forgotten Man (Laurent Nègre, Spielfilm). Der Schweizer Botschafter in Nazideutschland kehrt nach dem Krieg nach Hause zurück.

  • Natural Born Driver – L’incredibile storia di Ivan Capelli (Gionata Zanetta, Dokumentarfilm). Ein biografischer Film über einen Formel-1-Piloten in den 1980er-Jahren.

  • Jours de fête (Antoine Cattin, Dokumentarfilm). Die sozialen Verwerfungen im heutigen Russland werden anhand von sieben traditionellen Festen in St. Petersburg aufgezeigt.

  • De Noche los Gatos son Pardos (Valentin Merz, Spielfilm). Absurde Komödie über ein Filmteam, das in der französischen Provinz verschwindet.

  • Trained to See – Three Women and the War (Luzia Schmid, Dokumentarfilm). Drei Kriegskorrespondentinnen werfen einen neuen Blick auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs.

Editiert von Mark Livingston/ts, Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob

Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob

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