Der umstrittenste Schweizer Politiker ganz privat
Es ist kein Film für oder gegen Christoph Blocher. Der Dokumentarfilm von Jean-Stéphane Bron ist ein Stück Schweizer Geschichte, dem es gelingt, in die Privatsphäre der kontroversesten Figur der helvetischen Politik einzudringen – ohne jedoch Geheimnisse oder Schattenseiten zu enthüllen.
Wie macht man das Porträt eines Mannes, mit dem man weder Methoden noch Überzeugungen teilt? Ein Mann, der das Land gespalten hat und von den einen als «Retter», von anderen als «Gefahr für die Demokratie» bezeichnet wird, der aber zweifellos die letzten zwanzig Jahre der Schweizer Politik geprägt hat?
Der Waadtländer Regisseur Jean-Stéphane Bron hat sich in seinem am Filmfestival von Locarno uraufgeführten Film L’expérience Blocher dazu entschlossen, den Werdegang des protestantischen Pfarrersohns, der eigentlich Bauer werden wollte, zu einem der mächtigsten Unternehmer und Politiker der Schweiz zu erzählen. Er konnte einen intimen Blick auf ihn werfen, der gleichzeitig eine subtile Reflexion über unser Land und diesen nationalistischen Wind ist, der seit 1992 weht.
Alleine gegen alle hatte Christoph Blocher, der heute 72 Jahre alt ist, gegen eine Mitgliedschaft der Schweiz im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gekämpft und konnte eine Mehrheit des Schweizer Volks für sich gewinnen. Es war sein erster grosser politischer Sieg und der Beginn eines rasenden Aufstiegs.
Die Europa-Skepsis wird eines der starken Themen auf seiner politischen Laufbahn bleiben. Zudem sagt er der Einwanderung den Kampf an und setzt sich für die Souveränität des Landes ein – Argumente, welche die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) zur stärksten Partei im Land anwachsen lassen.
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«Eine Demokratie braucht unbequeme Filme»
Der Mann und sein Land
Wer überraschende Enthüllungen erwartet hatte, kam nicht auf seine Rechnung. Der Film – den Christoph Blocher akzeptiert hatte, ohne irgendwelche Änderungen zu verlangen – ist kein politischer Dokumentarfilm.
«Es war nicht meine Idee, das ‹System Blocher› zu beschreiben, L’Expérience Blocher sollte vielmehr die Beziehung eines Mannes zu seinem Land zeigen, mit der Demokratie als rotem Faden», erklärte der Regisseur, der sich mit Dokumentarfilmen wie Mais im Bundeshuus (über das Schweizer Polit-System) und Cleveland versus Wall Street (über die Finanzkrise), einen Namen gemacht hatte.
«Christoph Blocher wurde tausend Mal fotografiert, interviewt und beschrieben. Ich versuchte, die Schattenseiten zu ergründen, die ihn umgeben, und die im kollektiven Unterbewusstsein schlummern. Ich beschränkte mich darauf, seine Geschichte mit den bereits bekannten Fakten zu schildern. Ich wollte ihn nicht menschlicher machen, sondern komplexer, indem ich ihn aus seiner Heldenaura herausholte.»
Der Dokumentarfilm wurde hauptsächlich im Innern des Wagens des ehemaligen Bundesrats gedreht, vor den eidgenössischen Wahlen 2011. Vier Jahre nach seiner Abwahl aus der Landesregierung bereitete Blocher seinen Rachefeldzug vor. Er erlitt jedoch eine persönliche Niederlage und auch seine Partei musste eine Schlappe hinnehmen.
Mit Archivaufnahmen lässt Jean-Stéphane Bron auch einige von Blochers politischen Rivalen zu Wort kommen und zeigt die berufliche und professionelle Karriere von Christoph Blocher auf, ohne die dunklen Seiten zu verbergen, aber auch ohne das in die Länge zu ziehen.
Der 1969 geborene Bron hat einen Abschluss der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL).
Nach den Dokumentarfilmen Connu de nos services und La bonne conduite wird er 2003 mit Mais im Bundeshuus, einem Film zwischen Dokumentation und Fiktion über die Prozeduren in den Kommissionen der Schweizer Politik, in der ganzen Schweiz bekannt.
Das Werk gewinnt zahlreiche Preise (darunter bester Dokumentarfilm des Jahres und den prestigeträchtigen «Original Vision» der New York Times) und gilt bis heute als einer der erfolgreichsten Schweizer Filme.
Sein vierter Dokumentarfilm, Cleveland versus Wall Street, der die Finanzkrise thematisiert, wurde am Filmfestival Cannes 2010 in der Sektion «Quinzaine des réalisateurs» präsentiert. Er wurde für die Césars in Frankreich nominiert und gewann den Preis des besten Schweizer Dokumentarfilms.
Es geht etwa um seine umstrittenen Geschäfts-Beziehungen zum Apartheidregime in Südafrika sowie um seine Rolle bei der Demission von Philipp Hildebrand, dem Präsidenten der Schweizerischen Nationalbank.
Der Dokumentarfilmer hat sich dazu entschieden, selber integrierender Teil des Films zu sein. In Off-Kommentaren wird das Publikum mit den Zweifeln des Autors konfrontiert («Ich fühle mich als Komplize…») und mit den Geheimnissen, die er eher aufzeigen als enthüllen will («Ich erfinde Sie, ich stopfe die Löcher.»). Blocher, ein animal politique und mediengewandt, gibt sich nie wirklich eine Blösse und lässt sowohl Regisseur wie Zuschauer nicht wirklich auf ihre Rechnung kommen.
Christoph Blocher wurde am 11. Oktober 1940 im Kanton Schaffhausen geboren. Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Nach einer Landwirtschaftslehre studierte er Jurisprudenz an den Universitäten von Zürich, Montpellier und Paris.
Seine politische Laufbahn auf nationaler Ebene begann am Ende der 1970er-Jahre, als er in den Nationalrat (Grosse Parlamentskammer, 1979-2003) gewählt und Präsident der Zürcher Sektion der Schweizerischen Volkspartei (SVP, rechtskonservativ) wurde. Das Präsidialamt übte er bis 2003 aus.
Richtig lanciert wurde seine politische Karriere 1992, als sich eine Mehrheit des Stimmvolks mit Blocker gegen einen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR aussprach. Dieses Ereignis war auch der Beginn des Aufstiegs der SVP. Die EU-Skepsis gehört zu Blochers wichtigsten Themen, genauso wie sein Kampf gegen Immigration und zugunsten der Souveränität des Landes.
2003 wird Blocher in den Bundesrat (Landesregierung) gewählt. Vier Jahre später wählt ihn das Parlament aber nicht wieder, sondern zieht ihm Eveline Widmer-Schlumpf vor, die als kollegialer beurteilt wird und dem weniger konservativen Flügel der SVP angehört.
Als Unternehmer ist es ihm in kurzer Zeit gelungen, wichtigster Aktionär und Präsident des Verwaltungsrats der EMS-Chemie zu werden. Heute ist er Mitglied mehrerer Verwaltungsräte multinationaler Unternehmen und Eigentümer der Robinvest AG.
Der Chefstratege der SVP ist auch Aktionär der Tageszeitung Basler Zeitung und steht der Weltwoche nahe.
Seit 2011 ist er erneut Mitglied des Nationalrats.
Ein Stück Intimität
Bereits vor der Uraufführung auf der Piazza Grande hatte L’Experience Blocher bei gewissen Linkspolitikern negative Reaktionen ausgelöst. Sie stiessen sich daran, dass ein Film über eine umstrittene und noch immer aktive Figur mit staatlichen Fördergeldern subventioniert worden war. Die Erwartungen waren im wahrsten Sinne greifbar, noch nie hatten sich vermutlich so viele Bundeshaus-Korrespondenten fürs Festival akkreditiert.
«Es handelt sich um einen interessanten Dokumentarfilm zur aktuellen Geschichte der Schweiz, gezeigt anhand einer der markantesten politischen Persönlichkeiten der letzten zwei Jahrzehnte», sagt Markus Häfliger, Bundeshaus-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. «Nie zuvor hat sich ein Film so stark einem Schweizer Politiker angenähert, indem er in dessen Privatsphäre eindrang. Der Star wird so zu einem menschlichen Wesen, mit seinen Stärken und Schwächen, seinem Lachen, seinen Enttäuschungen, seinen schwarzen Momenten. Das macht die grosse Stärke dieses Films aus.»
Jean-Stéphane Bron wagt sich in die intimsten Orte, wie das Geburtshaus des Ex-Bundesrats, wo er herausfindet, dass ihn der Friedhof am ehesten tröstet. Er filmt ihn auch im Innern seines Schlosses, während er eine Opernarie singt, in seinem Schwimmbad oder im Schlafzimmer, wo er gegen Schlaflosigkeit kämpft – diskret an seiner Seite Gattin Silvia. Gewisse Szenen wurden wie eine Fiction-Film gedreht, wo Blocher nicht mehr eine Person ist, sondern zum Darsteller wird.
Dieser intime Blick gefiel auch Reto Ceschi, Bundeshausjournalist beim italienisch-sprachigen Radio und Fernsehen (RSI). «Ich erwartete kein kritisches Pamphlet, wollte aber den Mann kennenlernen. Es ist unausweichlich, dass man den kritischen Zugang etwas verliert, wenn jemand einem die Türe zu seinem Haus öffnet.»
Zu wenig politisch?
In Sachen Politik bleibe der Film ein wenig an der Oberfläche, sei sogar etwas missglückt, schätzt Häfliger. «Eines der Ziele von Jean-Stéphane Bron war, die tiefliegende Motivation von Christoph Blocher zu entdecken, doch in diesem Sinn hat er die Fassade nicht durchbrechen können. Man kann diesen Dokumentarfilm nicht als politischen Film bezeichnen. Man kann sich fragen, ob das die Absicht des Regisseurs war, oder ob er sich ganz einfach den Umständen anpassen musste.»
Der Autor seinerseits hat an einer Pressekonferenz erklärt, er habe sich nicht selber zensuriert, sondern seine Auswahl gut ausgewogen. Doch um ein wahres «Märchen» über die Macht zu werden, fehlt dem Film einiges.
Also ein zu wenig politischer Film? Für Stéphane Gobbo, Journalist bei L’Hebdo, war das Ziel des Films nicht, einige gut gehütete Geheimnisse aufzudecken. «Es handelt sich um ein persönliches Porträt von Jean-Stéphane Bron über Christoph Blocher. So könnte man eigentlich erwarten, dass ein linker Filmemacher wie er einen kritischen Film gedreht hat. Doch er bleibt im Gegenteil neutral und subtil.»
Etwas ist klar: Über L’Expérience Blocher wird noch viel geschrieben werden, wie auch über seinen Protagonisten. Auch wenn dieser Dokumentarfilm ein wenig an einen Epilog erinnert, vielleicht wegen seines dramatischen Soundtracks und dem Bild eines einsamen Mannes, vielleicht wegen der Schlussszene, die an Citizen Kane erinnert und mit dem Wort «Ende» schliesst.
(Übertragen aus dem Italienischen: Gabriele Ochsenbein)
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