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Der Verschleiss des kapitalistischen Systems

Global Leaders auf der Bühne des Theaters St. Gallen: Andrea Zogg als "Banker" (li.) und Tim Kalhammer-Loew als "Der Unternehmer". Theater St. Gallen/Tine Edel

In seinem neuesten Stück "Das Ende vom Geld" zeigt der Schweizer Autor Urs Widmer ein "entgleistes Wirtschaftssystem". Davos und das WEF bilden den Rahmen für das Stück, das zurzeit am Theater St. Gallen gezeigt wird. Ein Gespräch mit dem Autor.

Die Handlung auf der Bühne beginnt mit dem Abschluss des WEF (World Economic Forum) in Davos. Ein Banker, ein Unternehmer, ein Bischof, ein Bundesrat  – sie alle haben am Forum eine Rede gehalten. Die Arbeit ist getan, nun warten sie auf ihren Limousinen, die nicht kommen. Das Warten dauert an, endlos.

Blockade. Eine fiktive Blockade zwar nur, die aber viel aussagt über die Wirtschaftskrise, mit der sich der 75-jährige Basler Autor Urs Widmer in seinem jüngsten Stück «Das Ende vom Geld» befasst.

Ob Zufall oder nicht, das Stück, das Widmer als «apokalyptische Metapher» bezeichnet, steht zurzeit auf dem Spielplan des Theaters St. Gallen und überschneidet sich mit der Aktualität. Das nächste WEF steht vor der Tür.

swissinfo.ch: Bedeutet das Ende vom Geld für Sie das Ende des Kapitalismus? 

Urs Widmer: Nein, nicht unbedingt. Was ich hier mit «Ende» meine, ist der Verschleiss, die Abnützung des kapitalistischen Systems, oder vielmehr seine Perversion. All diese grünen Zahlen, die man auf den Computer-Bildschirmen der Banken und Börsen sieht, das ist virtuelles Geld, das nicht wirklich existiert.

Niemand weiss, was diese Summen repräsentieren und wohin sie gehen. Es ist ein «religiös» gewordenes System. Es weckt in mir Gedanken an die katholische Kirche und ihren Chef, den Papst, der weder genau weiss, wo sich Gott befindet, noch wie er funktioniert.

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swissinfo.ch: Ist das WEF eine Tragikomödie wie Ihr Stück auf der Bühne? 

U.W. : So weit würde ich nicht gehen. Ich kann es auch gleich sagen: Mein Ziel ist nicht, das WEF anzugreifen, sondern herauszufinden, wer diese grossen Führungskräfte sind, die man in Davos sieht. Sind es Männer, die Dummheiten begehen oder im Gegenteil Personen guten Willens, die ein Gegengewicht zu sozialen Ungerechtigkeiten offerieren? Wenn ich näher betrachte, was in den vergangenen Jahren in Davos passiert ist, denke ich, es war etwas von Beidem.

Dennoch muss man nicht das WEF an sich in Frage stellen, sondern ein ganzes Wirtschafts- und Finanzsystem, das aus den Schienen gelaufen ist. Das Debakel ist zudem nicht so neu, wie man denken mag. Ausgelöst wurde es von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die so ziemlich alles deregulierten. Und da haben die Banken angefangen, sich zu verhalten, als wären sie Casinos.

swissinfo.ch: Wie betrachten Sie das Verhalten der ehemaligen UBS-Führungskräfte angesichts des Libor-Skandals? 

U.W. : Schon vor fünf Jahren hat unser tapferer Schweizer Essayist Jean Ziegler das Wort «Banditen» gebraucht, wenn er von Bankern sprach. Die Aktualität gibt ihm Recht. Heute sehen wir, dass gewisse Banken zum Teil wie kriminelle Organisationen funktionieren.

Abgesehen davon bin ich aber in erster Linie ein Mann des Theaters. Und ich denke, dass die Ex-Führungskräfte der UBS vor dem britischen Parlamentsausschuss eine immense Komödie abgaben – es war schmerzhaft, das anzusehen. 

Geboren 1938 in Basel.

Studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Montpellier und Paris.

1966 promoviert er mit einer Arbeit über die deutsche Nachkriegs-Prosa.

Danach Lektor, zuerst im Walter Verlag, Olten, danach beim Suhrkamp Verlag in Deutschland.

Er verlässt den Verlag zwar bald wieder, bleibt aber in Frankfurt am Main, wo er von 1967 bis 1984 lebt und sich als Schriftsteller etabliert.

Seine Karriere als Schriftsteller begann 1968 mit der Erzählung «Alois».

Er schreibt in dieser Zeit auch Kritiken für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und lehrt als Dozent für neuere moderne deutsche Literatur an der Universität Frankfurt.

Widmers Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke und Hörspiele.

Nach Ansicht der Literaturkritik liegt die Stärke seines Werks unter anderem darin, wie er einfache Geschichten aus dem Leben in Satire oder Parodie zu verwandeln weiss.

Das Theaterstück «Top Dogs», eine Sozialsatire, die Widmer 1997 beim Berliner Theatertreffen präsentierte, war ein internationaler Erfolg, wie auch sein Roman «Der Geliebte der Mutter».

Widmer ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Bensheim, der Akademie der Künste Berlin und Mitglied im Grazer Forum Stadtpark.

Im Verlauf seiner schriftstellerischen Karriere hat er zahlreiche Literaturpreise und andere Ehrungen erhalten.

swissinfo.ch: Politik und Finanzen sind ein unsicheres Gelände, das Dramatiker nur selten betreten. Sind Sie ein Rebell, der sich trotz allem wagt? 

U.W. : Nein, ich sehe mich nicht als Rebell. Revolte ist nicht der Motor, der mich antreibt. Was mich interessiert, ist die Spannung, die aufgrund der unterschiedlichen Meinungen und Wünsche der Charaktere entsteht. Und das Theater ist ein aggressives Genre, das solche Spannungen möglich macht.

Nehmen Sie Shakespeare oder Brecht. Beide verstanden es sehr gut, das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Meinungen zu zeigen. Auf meine eigene Weise tue ich das auch, in bescheidenem Rahmen. Mit dem Unterschied, dass bei Shakespeare die Macht bei den Königen lag. Heute liegt die Macht bei der Finanzwelt, und es ist diese, die ich inszeniere.

swissinfo.ch: Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt haben sich stark mit Macht und dem Fluch der Macht befasst. Fühlen Sie sich den beiden nahe? 

U.W : Ich bin mit ihnen durch meine Schweizer Identität verbunden. Aber ich muss gestehen, dass ich selten an diese beiden Schriftsteller denke.

swissinfo.ch : Sie haben aber dennoch etwas mit ihnen gemein: Sie prangern ein System an, das nicht funktioniert. 

U.W : Es ist nicht einfach, heute ein Stück wie «Das Ende vom Geld» zu schreiben. Wieso? In Wirklichkeit gleichen sich die Führungskräfte alle, sind gar austauschbar, während die Charaktere im Theater klar definiert sein müssen, damit der Autor Spannungen schaffen kann.

Frisch und Dürrenmatt lebten zu einer Zeit, als es in der Wirtschaft Führungskräfte mit stattlichen, klaren Identitäten gab, die man zu «Helden» trimmen konnte. Meine beiden Vorgänger hatten diese Chance. Das ist der Unterschied zwischen ihnen und mir.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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