Der Weg zum Traumstoff beginnt im Chaos
Entwurfszeichnungen, Fotos, Musterstoffe und Garnknäuel liegen wild durcheinander gewühlt auf Tischen, Pulten und Boden: Studienalltag für die künftigen Textildesignerinnen und -designer an der Hochschule Luzern.
Im Raum herrscht ein kreatives Chaos, denn ein solches soll den Studentinnen, sie sind deutlich in der Mehrheit, und Studenten als Inspiration für künftige Stoffe und Muster dienen.
«Es sollte ein lustvoller Prozess sein. Ihr sollt es geniessen, eure eigene Kollektion zu entwerfen. Etwas weglassen, etwas Neues hinzufügen – das ist Gestaltung», gibt Dozentin Rosa Müggler den Studierenden mit auf den Weg.
Diese sind im dritten und letzten Jahr ihres Studiums in Textildesign an der Hochschule Luzern, Abteilung Design & Kunst. Als einzige in der Schweiz bietet die Innerschweizer Hochschule ein Studium in dieser Fachrichtung an.
Von der Glamour-Atmosphäre der Fashion Days in Zürich, die vom 7. bis 10. November in der nur eine Stunde entfernten Limmatstadt stattfinden, ist in Luzern wenig bis gar nichts zu spüren. Die jungen Textilgestalterinnen hören Rosa Müggler aufmerksam zu, geht es doch in der heutigen Lektion um nichts weniger als das ABC einer eigenen Kollektion von A bis Z.
Alle haben wochenlang Ideen und Eindrücke zu Entwürfen skizziert. Alltägliche Objekte wie Teetassen oder Kleiderbügel dienten dabei als Ausgangspunkt.
Vom Lenkergriff zum Blumenmuster
Als solchen wählte Carmen Boog den Lenkergriff eines Fahrrads. «Erst wusste ich kaum, um was es sich handelte, aber ich hatte Ideen, was ich damit machen wollte», sagt die Studentin. So diente der Gummigriff als Stempel für Tintendrucke, bevor Boog begann, mit dem Teil dicke, schwarze Kreise und Linien zu ziehen. Daraus wuchsen Formen graziler Blumen, die schliesslich auch Farbe annahmen.
«Bei dieser Aufgabe mussten wir stets vom letzten Entwurf einen Schritt weiter gehen. Es war nicht erlaubt, zu einem vorherigen Element zurück zu kehren. Das war ziemlich knifflig», berichtet Carmen Boog nach insgesamt über 100 Entwurfs-Skizzen.
Aus diesem Stoss musste sie eine kleine Auswahl treffen, die als Basis für zwei Kollektionen textiler Gestaltungskonzepte diente. Dieselbe Aufgabe mussten Boog und ihre Klassenkameraden auch gegenseitig untereinander lösen. Sinn und Zweck hier: Schärfen und Einbringen des kritischen Blicks von aussen. Letzte Stufe der Aufgabe war es schliesslich, die eigenen Entwürfe mit den Feedbacks der Kolleginnen zu etwas Neuem zu verweben. Und dies im wörtlichen Sinne.
Zu den Wurzeln
«Für uns ist sehr wichtig, echte Dinge herzustellen, nach dem Prinzip ‹learning by doing›. Nur wenn wir Stoffe weben, finden wir heraus, wie ein Muster wirkt und wie sich der Stoff anfühlt», erklärt Tina Moor, Leiterin des Lehrgangs in Textildesign in Luzern. Neben dem Weben lernen die Studierenden auch Techniken in Strickerei, Stickerei sowie Stoffdruck.
«Für jede dieser Techniken existiert eine eigene Sprache. Die Studentinnen müssen die Stoffe nicht selbst herstellen können, dies tun die Techniker. Aber sie müssen deren Sprache beherrschen», sagt Moor.
Sie beobachtet, dass es die Männer innerhalb der Textilbranche meist in die technischen Berufe zieht. Moor würde es aber sehr begrüssen, wenn sich mehr Männer für den Ausbildungsgang Textildesign entscheiden würden.
In der Mittagspause treffen wir Marta Alfaro und Carmina Ibanez. Die zwei Studentinnen im ersten Ausbildungsjahr mühen sich an Strickmaschinen ab. Sie versuchen, zwei verschiedenfarbige Garne zu einem Jacquard-Muster zu verweben. «Ich arbeite erst seit zwei Tagen an diesem Gerät, also habe ich noch viel zu lernen. Aber es ist machbar», berichtet Marta Alfaro.
Carmina Ibanez hat sich für Rot und Grün entschieden, «die Nationalfarben Mexikos», wie sie ironisch anfügt. «Es sind nicht meine Lieblingsfarben, aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist das Erlernen der Technik.»
Blick über den Tellerrand hinaus
Zum Lehrgang an der Universität Luzern gehört auch die Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Fachrichtungen. Dies soll helfen, den Horizont über die Textilgestaltung hinaus zu erweitern.
So spannen die Absolventen des zweiten Ausbildungsjahres etwa mit Mitarbeitern des Historischen Museums Luzern zusammen oder mit Studierenden der Abteilung für Architektur. Das Thema dieser interdisziplinären Kooperation lautet «Innovation und Tradition», Ziel ist die Wiederbelebung von vergessenem Handwerk in Luzern.
Cornelia Stahl hat sich in das Thema der Zünfte vertieft. «Zuerst listete ich all jene Dinge auf, die mich interessierten. Dann suchte ich nach inspirierenden Bildern für mein ‹Mood Board› (grosse Tafel mit allem, was den kreativen Prozess für eine Lösungsfindung beflügelt, die Red.). Ich suchte nach Materialien, Motiven, Strukturen und Handwerks-Erzeugnissen, die in einem Zusammenhang zum Thema standen. Dann kamen die Farben hinzu», erklärt Stahl den durchlaufenen Prozess.
Die Entwicklung der Ideen bis zum fertigen Traumstoff findet in den Atelier-Kabinen statt, die allen Studierenden, in der Regel 16 bis 18 pro Klasse, zur Verfügung stehen.
Die Herausforderungen sind gross, doch ist Cornelia Stahl von der Ausbildung und den Perspektiven begeistert. Am meisten gefällt ihr die Vielseitigkeit, die ihrem künftigen Beruf innewohnt.
«Stoffe haben mich seit je fasziniert. Besonders spannend finde ich, dass ihre Verwendung nicht nur auf einen Bereich beschränkt ist, Stoffe kommen sowohl in der Mode als auch in der Innenarchitektur und -ausstattung zur Anwendung», sagt die Studentin.
Rosige Zukunft
Die Aussichten für junge Designerinnen seien in der Schweiz sehr gut, sagt Nathalie Riggenbach, Sprecherin des Textilverbandes Schweiz (TVS). «Wir habe mehrere grosse Unternehmen wie Schoeller Textile oder Creation Baumann, die sehr stark auf Innovation setzen. Da sind junge Designerinnen immer gefragt», so Riggenbach. Sowohl diese Firmen als auch der Verband seien stark um guten Nachwuchs bemüht.
Dies ist auch notwendig, denn das Ausland lockt mit einem grösseren Angebot an attraktiven Stellen, sagt Textildesignerin Annina Weber, welche die Ausbildung in Luzern im Jahr 2007 abgeschlossen hat.
«In der Schweiz ist die Auswahl sehr beschränkt, deshalb bildete ich mich nach dem Abschluss in Luzern in Antwerpen bei Christian Wijnants weiter, dem Gewinner des Schweizer Textilpreises 2005», sagt Weber. Heute entwirft sie Textilien für das St. Galler Unternehmen Christian Fischbacher, das Bettwäsche, Badetücher, Teppiche und Stoffe für die Innenausstattung herstellt. Darüber hinaus arbeitet Weber für das Schweizer Textilmuseum, das sich ebenfalls in St. Gallen befindet.
Der Luzerner Lehrgang in Textildesign ist für viele Studentinnen eine Zweitausbildung. So auch für Annina Frey, die nach ihrem Abschluss als Schneiderin ins Designfach wechselte.
«Ich wollte schon immer mit Kleidern und Stoffen arbeiten, aber der Beruf der Schneiderin ist mir zu eingeschränkt. Hier kann ich viel kreativer sein», sagt sie.
Genau darum geht es, wie Tina Moor, die Verantwortliche des Luzerner Textildesigner-Lehrgangs, sagt. «Kreativität ist das wichtigste, man muss immer neue Ideen haben. Solange man solche hat, ist es der beste Job.»
Die Publikumsveranstaltung dauert vom 7. bis 10. November.
Höhepunkte sind u.a. die internationalen Modeschauen von Modedesignerinnen und -designern, darunter Barbara Bui aus Paris und Charlotte Ronson aus New York.
Es werden auch Design-Auszeichnungen verliehen; Konzerte runden den Anlass ab.
2011 hat sich der Rückgang der Schweizer Textilexporte verlangsamt. Dennoch sanken die Ausfuhren im Vergleich zum Vorjahr um 5,2% auf 3 Mrd. Franken.
Die Importe sanken 2011 nur leicht um 1,1% auf 7,6 Mrd. Franken.
Dem leichten Rückgang im Handel steht eine Steigerung der Wertschöpfung um 1,4% auf 1,2 Mrd. Franken entgegen.
(Quelle: Textilverband Schweiz TVS)
Von 2000 bis 2010 zeichnete der Textilverband Schweiz junge Designerinnen und Designer aus. Die Preisverleihung erfolgte an der Fashion Night im Rahmen der Fashion Days Zürich.
Die Preise bestanden in Gutscheinen im Wert von mehreren tausend Franken für den Bezug von Stoffen.
Unter den Gewinnern figurierten etwa die Britin Mary Katrantzou oder Alexander Wang aus den USA.
Nach dem Ende des Swiss Textiles Award und einem Jahr Unterbruch vergibt der Textilverband Schweiz am 15. November erstmals den Golden Velvet Award. Ausgezeichnet werden junge Filmschaffende, die in ihrem Werk die Innovation der Schweizer Textilien eingefangen haben.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch