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Dichtkunst ist Kino im Kopf

Arno Camenisch: witziger, lustvoll frecher Sprachgebrauch. swissinfo.ch

Zuhören, lesen, fachsimpeln, vor grossem Publikum diskutieren, literarischen Newcomern oder einem Urgestein wie Hugo Loetscher direkt gegenüber stehen: Das kann man nur an den Solothurner Literaturtagen.

Rund 10’000 Literaturbegeisterte machten am vergangenen Auffahrtswochenende von dieser Möglichkeit Gebrauch. Grosse Namen ziehen die Menschen auch in Solothurn an. Aber eigentlich sind es die Jungen, Unbekannten, die für Überraschung und die wahren Highlights sorgen.

Ein gutes Beispiel dafür ist der 31-jährige Bündner Arno Camenisch mit seinem Roman Sez Ner. Das Buch zeigt auf, wie die Vielsprachigkeit in der Schweiz gelebt werden kann. Schlägt man es auf, findet sich links der rätoromanische Text, rechts dasselbe in Deutsch.

Mit seiner rhythmisierten Prosa und einfachen Worten stellt Camenisch einen Sommer auf der Alp Sez Ner plastisch dar. Seine verbalen Bilder produzieren in den Köpfen der Zuhörer einen Film – Kino im Kopf. Unterstützt wird dieser Prozess auch durch seine bündnerisch geprägte hochdeutsche Aussprache.

Kein Heimatroman

Das Publikum merkt, da liest einer, der weiss, worüber er schreibt. Das bäuerliche Szenario hat jedoch nicht das geringste gemein mit einem Heimatroman. Camenisch hat die nötige Distanz sowie viel Witz und eine gesunde Portion Frechheit. Damit zeigt er auf, dass die moderne Welt auch vor abgelegenen Bergtälern nicht Halt macht.

Der Vortrag des mittlerweile in Biel lebenden Autors ist eine Liebeserklärung an seine verlassene Heimat, eine Liebeserklärung, in der aber auch Kritik nicht fehlt.

Bahnhof oder staziun?

Camenisch hält seine Lesung auf Rätoromanisch und Deutsch. Er verzichtet in diesem Werk auf eine strikte Trennung der beiden Sprachen. Vielmehr orientiert er sich an der örtlichen Realität, wo romanische Ausdrücke ins Deutsch eingeflochten werden und umgekehrt. (Hörproben rechts unter Multimedia).

Als Beispiel führt er seine romanischsprachige Grossmutter an, die zeitlebens den Zug im Bahnhof bestiegen hat und nicht in der staziun.

Sein unbelasteter und frecher Umgang mit der Sprache sorgt offenbar für Unmut bei den rätoromanischen Sprachpuristen. Ihn stört das nicht. Er steht mit seiner Sprache mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität.

Diskussionsstoff

Zum Konzept der in allen Landessprachen stattfindenden Literaturtage gehören auch Diskussionen, die sich nicht nur auf die Literatur beschränken, sondern auch die Themen einbeziehen, die den Autorinnen und Autoren den Stoff für ihre Werke liefern.

Ein Beispiel dafür ist die NETZ-Lesung am Sonntagmorgen. Simon Froehling, Guy Krneta, Johanna Lier, Ruth Schweikert und Franco Supino beschäftigen sich in ihrer gemeinsamen Lesung aus «Aktion Duback» mit dem privaten Datensammler Ernst Cincera. Das jüngste Theaterstück Krnetas lässt die Zeit des Kalten Krieges und den damit zusammenhängenden Fichenskandal aufleben.

In der anschliessenden Diskussion kommt man einmütig zum Schluss, dass der Fichenskandal in der Schweiz noch nicht aufgearbeitet sei. Immer noch werde hier Politik betrieben unter der Prämisse «Es gibt einen Feind». Dies rechtfertigt in den Augen der Autoren aber nicht, dass bald wieder wie in der «guten alten Fichenzeit» Menschen unter fadenscheinigsten Begründungen bespitzelt werden.

Tandem-Lesung

In der Tandem-Lesung von Altmeister Hugo Loetscher, der die im holländischen Exil lebende kroatischen Schriftstellerin Dubravka Ugresic eingeladen hat, dreht sich alles um die Themen Identität und Heimat.

Ugresic erklärt in ihrem Text, weshalb sie auf den Begriff Identität allergisch ist. Vielleicht wegen einer Überdosis?

«In meiner einstigen Heimat hat man mit diesem Wort lange und beharrlich meine Gehörgänge und Trommelfelle attackiert und mich damit geprügelt. Kein Wunder, dass sich bei mir eine chronische Aversion entwickelt hat.»

Ugresic findet, sie habe keine Integrität und sie fehle ihr auch nicht. Der Mensch könne zwar verschiedene Identitäten haben, aber höchstens eine Integrität.

Loetscher in Hochform

Gut gelaunt, frisch und spritzig wie schon lange nicht mehr, nimmt Hugo Loetscher, der dieses Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, das Thema auf. Er arbeitet an der Verschmelzung der Begriffe Heimat und Identität: «Was, wenn die Welt als Ganzes zu unserer Heimat würde?» Er wolle in erster Linie Schriftsteller sein und nicht «Schweizer Schriftsteller».

Auch Loetscher sieht sich als «Secondo», denn sein Vater ist in den 1920er- Jahren aus dem Innerschweizer Entlebuch nach Zürich «ausgewandert». Für ihn war der Unterschied zwischen den beiden Orten mindestens so gross wie heute zwischen der Schweiz und einem Entwicklungsland.

Loetscher ringt der Globalisierung auch einen positiven Aspekt ab: «Zum ersten Mal findet Weltgeschichte statt!», denn jede Veränderung in einem Winkel der Welt habe globale Auswirkungen. Dies fördere ein neues Menschenverständnis.

Doch so weit sind wir offenbar noch nicht. Ugresic: «Ich garantiere Ihnen, dass Sie meinen Text anders lesen, wenn Sie wissen, dass die Autorin keine Schweizerin, sondern eine Kroatin ist.»

Etienne Strebel, Solothurn, swissinfo.ch

Zum 32. Mal stand das Auffahrtswochenende in Solothurn ganz im Zeichen der Literatur: Von Freitag bis am Sonntag fanden rund 70 Veranstaltungen mit 92 Autorinnen und Autoren statt. 10’500 Besucherinnen und Besucher wurden registriert.

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