«Die Cervelat ist das Schweizer Produkt par excellence»
Die Vielfalt der Schweiz spiegelt sich auch in ihrer Küche wider. Das kürzlich auf Französisch veröffentlichte Buch "Das kulinarische Erbe der Schweiz" zeichnet ein gastronomisches und kulturelles Porträt der Schweizer Regionen. Ein Gespräch mit Olivier Girardin, Präsident des Vereins Kulinarisches Erbe der Schweiz.
Eine Schatztruhe. Das ist der Begriff, der einem sofort in den Sinn kommt, um dieses 661 Seiten starke Buch zu beschreiben. Es kam Ende 2022 in der französischsprachigen Übersetzung heraus. Die deutsche Originalausgabe soll – das ist eher ungewöhnlich – im Frühling 2023 veröffentlicht werden.
Der Autor, der Gastronomiejournalist Paul Imhof, reiste jahrelang durch die Schweiz und sammelte Informationen bei einer Vielzahl von Personen. Sie sind entweder in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe oder in Bibliotheken tätig.
Das Ergebnis: Zu jedem kulinarischen Produkt liefert Imhof umfassende Informationen über Herkunft, Geschichte, Produktionsweise und Verbreitungsgebiet.
Das Buch fasst ein kulinarisches Inventar zusammen, das von 2005 bis 2008 vom Verein Kulinarisches Erbe der Schweiz in fünf Bänden veröffentlicht worden ist.
Diese Bücher entstanden in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Fachleuten aus verschiedenen Bereichen (Akademikerinnen, Historiker, Branchen usw.) im Auftrag des Bundes und wurden seither ständig aktualisiert.
Ziel dieses Inventars ist es, ein möglichst vollständiges Panorama der kulinarischen Produkte der Schweiz zu erstellen.
Um in das Verzeichnis aufgenommen zu werden, müssen die Produkte drei Kriterien erfüllen: Sie müssen seit mindestens 40 Jahren existieren. Es muss ein besonderer Bezug zur Schweiz existieren. Und sie müssen noch immer konsumiert werden.
Das Buch, in dem über 450 Produkte aufgeführt sind, ist jedoch nicht nur ein Inventar. Es bietet zudem die Möglichkeit, die Schweiz und ihre Bevölkerung besser kennenzulernen.
«Die kulinarische Tradition ist auch eine Reise durch die Geschichte, die Geografie, die Kultur und die Soziologie eines Landes», sagt Olivier Girardin, Präsident des Vereins Kulinarisches Erbe der SchweizExterner Link.
swissinfo.ch: Was sagt ihr kulinarisches Erbe über die Schweiz aus?
Olivier Girardin: Es gibt verschiedene Schweizer Terroirs. Wir haben ein sehr reiches Erbe, das zeigt, dass die Schweiz ein Land an einer Kreuzung in der Mitte Europas ist, mit mehreren Kulturen und Grenzen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Küche der Schweiz wider.
Das kulinarische Erbe zeigt auch, wie man früher in der ländlichen Welt lebte, in der nichts weggeworfen und alles verarbeitet wurde.
In der Schweizer Küche gibt es eine grosse Vielfalt an Käsesorten, aber auch getrocknete Würste und Fleisch. Das zeugt von der Sorgfalt, mit der die Produkte haltbar gemacht wurden.
Dieses kulinarische Erbe hängt damit zusammen, dass ein grosser Teil des Landes in den Bergen liegt, wo im Winter nur das auf den Tisch kam, was man länger aufbewahren konnte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich in erster Linie um die ländliche Küche eines relativ armen Landes handelt. Wir sind damit ziemlich weit von der Pracht einer Küche in Versailles entfernt…
Ganz und gar nicht. Dieser ländliche und relativ arme Charakter ist ein zentrales Element des kulinarischen Erbes der Schweiz.
Die Schweiz ist aber auch ein Industrieland, in dem die Produkte unserer Lebensmittelindustrie von grossen Konzernen wie Nestlé stammen. Das ist die modernere Seite dieses Erbes. Zu den klassischen Produkten dieser Art gehören etwa die berühmte Cenovis oder der Thomy-Senf.
Wir haben über die Gemeinsamkeiten der Schweizer Küche gesprochen. Gibt es auch grosse Unterschiede zwischen den Regionen?
Klar gibt es typische Produkte aus verschiedenen Regionen. Zum Beispiel ist der Cardon (Gemüsegericht) in Genf sehr bekannt, in anderen Teilen der Schweiz jedoch nicht. In der Ostschweiz gibt es eine Maissorte (Ribelmais), die man nicht überall findet.
Aber abgesehen von den Produkten ist es interessant zu sehen, dass die Verbindung zum Essen je nach Region unterschiedlich ist. Man sieht, dass man in der Deutschschweiz sensibler auf die Art der Produktion reagiert, zum Beispiel was Bioprodukte betrifft.
In der lateinischen Schweiz ist man sensibler für die Frage der Herkunft, des Terroirs. Die Geschmackseite ist in der lateinischen Schweiz viel stärker ausgeprägt als in der Deutschschweiz, wo man mehr auf das Tierwohl achtet.
Es ist übrigens interessant, dass ein Produkt verwendet wird, um über die kulturellen Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und der lateinischen Schweiz zu sprechen – der «Röstigraben». Und das, obwohl die Rösti auch in der Romandie gegessen wird.
Identität hat auch mit Essen zu tun. Deshalb ist es für den nationalen Zusammenhalt wichtig zu wissen, was in anderen Teilen des Landes gegessen wird.
Wie gesund sind die Produkte des kulinarischen Erbes der Schweiz angesichts der Globalisierung und der Vereinheitlichung der Geschmäcker?
Das Interesse daran hat zugenommen. Gourmet-Restaurants setzen gerne regionale Produkte auf ihre Speisekarte. Auch das Interesse der Öffentlichkeit am Verzehr von regionalen, saisonalen Produkten ist gestiegen.
Im täglichen Konsum ist die Bewahrung dieses Erbes jedoch etwas weniger selbstverständlich. Es an die Jugend weiterzugeben, ist eine echte Herausforderung.
Einige Produkte verschwinden sogar ganz. Warum ist das so?
Es gibt einen Wandel in den Essgewohnheiten. Das trägt dazu bei, dass Produkte verschwinden, die eine längere oder kompliziertere Zubereitung erfordern, wie beispielsweise die «Low-Cuts» von Tieren.
Ausserdem erfordern viele Produkte, die verarbeitet werden, um sie haltbar zu machen, ein grosses Knowhow von Berufsgruppen wie Metzgerinnen, Bäckern oder Käserinnen. Die Lebensmittelverarbeitung wurde jedoch stark industrialisiert, was zum Verlust dieses Knowhows geführt hat.
Es gibt jedoch auch neue Produkte, die aufkommen und die schicksalhafte Grenze von 40 Jahren, die wir für eine Aufnahme in das kulinarische Erbe ansetzen, unterschritten haben. Dies ist zum Beispiel beim Tessiner Olivenöl der Fall – eines der letzten Produkte, die wir in das kulinarische Erbe aufgenommen haben.
In letzter Zeit ist viel von Ökologie und regionalen Produkten die Rede. Ist das eine Chance für das kulinarische Erbe?
Ich denke, dass die Rückkehr zu den Wurzeln eine Chance ist. Sie ist das Gegenteil der Globalisierung, bei der die Ernährung völlig homogenisiert wird.
Es muss uns gelingen, zu erklären, dass die Produkte des kulinarischen Erbes mit Knowhow, ökologischer Produktion, bewusstem Konsum und Tradition einhergehen.
Im Ausland wird oft gefragt, welches Produkt oder Gericht typisch für die Schweiz ist. Was ist die häufigste Antwort?
Die meisten Leute denken an Fondue oder Raclette. Diese Produkte haben den Vorteil, dass sie leicht zu transportieren und zuzubereiten sind.
Es gibt aber auch Käse wie Greyerzer oder Tête de Moine, die ebenfalls Exportschlager sind, obwohl die Produktionsmengen der beiden sehr unterschiedlich sind.
Also ist Käse das Schweizer Produkt schlechthin?
Ja, der Käse und alles, was damit zusammenhängt. Aber es gibt auch Würste. In der Schweiz gibt es etwa 450 Wurstsorten!
Wenn ich ein einziges Produkt als das Schweizer Produkt schlechthin bezeichnen würde, wäre es die Cervelat, die alle in jeder Region essen.
Die Kategorie der Backwaren ist ebenfalls sehr wichtig. Denn sie umfasst die meisten Spezialitäten des kulinarischen Erbes der Schweiz.
Eine andere Frage, die ebenfalls oft gestellt wird: Welches ist das traditionelle Weihnachtsessen in der Schweiz?
Das kommt darauf an, denn nicht alle Regionen haben die gleiche Tradition. Heutzutage ist es jedoch offensichtlich, dass Fondue Chinoise oder Truthahn die beliebtesten Gerichte an Weihnachten sind.
Man sollte jedoch eher auf Seiten der Desserts nach einem traditionellen, landesweit gemeinsamen Produkt suchen: Die Bûche de Noël ist zwar nicht spezifisch schweizerisch, wird aber überall in der Schweiz gegessen.
Auch das Anisbrot und die Weihnachtsguetsli findet man überall, auch wenn sie regionale Varianten aufweisen.
Könnten Schweizer Produkte im Ausland besser vermarktet werden?
Zu den Produkten, die sich am besten exportieren lassen, gehört Käse. Er hat eine sehr lange Tradition, die manchmal Jahrhunderte zurückreicht, wie zum Beispiel beim Sbrinz.
Man muss sich aber bewusst sein, dass die Schweiz nur die Hälfte ihrer Nahrungsmittel selbst produziert. Daher ist der Export von Lebensmitteln nicht wirklich ein Thema; es handelt sich eher um Nischenprodukte.
Ich hoffe jedoch, dass dieses Buch dazu beitragen wird, dieses reiche Erbe im Ausland besser bekannt zu machen. Mein Traum wäre es, dass jede Schweizer Botschaft ein Exemplar besitzt.
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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