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Die Filme des Schweizer Regisseurs Alain Tanner sind wie geschaffen für die Ära Trump

Ein Mann und zwei Frauen unter einer Bettdecke, alle lachen.
Fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Kinostart trifft Tanners "Jonah Who Will Be 25 in the Year 2000" immer noch den Nerv des jungen Publikums. Credit: United Archives Gmbh / Alamy Stock Photo

Das Werk des Schweizer Filmemachers Alain Tanner (1929-2022) wird dank der Restaurierungsbemühungen der Cinémathèque Suisse wiederentdeckt. Filmkritikerin Cici Peng erklärt, warum Tanners Werk heute noch relevant ist.

Anlässlich der ausverkauften Vorführung von Tanners Jonah Who Will Be 25 in the Year 2000 (1976) auf dem 77. Filmfestival von Locarno sprach der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón über die nachhaltige Wirkung, die Tanners Filme auf ihn als jungen Filmstudenten hatten.

Insbesondere Jonah mit seiner tiefgründigen Diskussion über die Möglichkeit des politischen Widerstands: nicht in grossen Gesten, sondern in kleinen, alltäglichen Aktionen.

Cuarón, der seinen ersten Sohn nach der Titelfigur von Tanners Film benannt hat, erzählte in Locarno von einem Film, den er in enger Anlehnung an Tanners Meisterwerk geschrieben hatte, der aber nie gedreht wurde.

Dennoch besteht Cuarón darauf, dass es ihm am meisten Spass gemacht habe, diesen Film zu schreiben.

Die Restaurierung von Tanners Filmen durch das nationale Filmarchiv CinémathèqueExterner Link kommt zu einem günstigen Zeitpunkt. 2017 schrieb der Filmkritiker John Powers in der Vogue, dass “Alain Tanners Werk wie geschaffen ist für das Zeitalter [des ehemaligen US-Präsidenten Donald] Trump. Seine Filme sind gleichzeitig witzig, sexy und intelligent. Sie behandeln Fragen, mit denen die meisten von uns derzeit konfrontiert sind: Gibt es eine Möglichkeit, einer auf Geld basierenden Welt zu entkommen? Wie geht man mit der Desillusionierung um, wenn man sieht, wie sich die Geschichte in die falsche Richtung entwickelt? Wo findet man Freiheit in einer Gesellschaft, die den eigenen Träumen zuwiderläuft?“

In einer Zeit der politischen Desillusionierung, der Hinwendung zum Faschismus in der ganzen Welt und der zunehmenden moralischen Leere der Politik appelliert Jonah an die Möglichkeiten eines radikalen Lebens innerhalb der Zwänge eines zunehmend ausbeuterischen kapitalistischen Systems.

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Tanners kleine Propheten

Der Film wählt nicht den Anarchisten oder die linke “Aussenseiterin”, um seine Geschichte zu erzählen, sondern stellt acht Personen in den Mittelpunkt.

Sie schlagen sich durch den Alltag wie der Rest von uns: Marco (gespielt von Jacques Denis) ist ein Geschichtslehrer, der in einem ländlichen Klassenzimmer die traditionellen Unterrichtsmethoden unterläuft.

Ein anderer Mann, Mathieu (Rufus), findet Arbeit auf einem Bauernhof, während seine Frau (Myriam Boyer) ein weiteres Kind erwartet; die Bauern (Dominique Labourier und Roger Jendly) halten an der traditionellen Landwirtschaft fest und weigern sich, auf dem örtlichen Bauernmarkt Produkte zu verkaufen, die mit Chemikalien und Pestiziden angebaut wurden.

Ein Korrektor (Jean-Luc Bideau) durchkreuzt heimlich die Pläne von Grundstücksspekulanten, die örtlichen Gemeinden zu erwerben. Seine Geliebte (Myrian Mézières) stellt sich die Möglichkeit radikaler tantrischer sexueller Begierde vor.

Die junge Kassiererin Marie (Miou-Miou) gewährt älteren Menschen unerlaubte Rabatte und bringt einer älteren Nachbarin häufig Lebensmittel.

Tanner nannte die Figuren seine “kleinen Propheten”, die in einem desillusionierten Moment leben (in den Vororten und in der Stadt Genf im Jahr 1975) und mit der drohenden Prekarität konfrontiert sind, sowohl durch die Arbeitslosigkeit als auch durch die Beschäftigung hierarchischen, stumpfsinnigen Jobs.

Der Film ist mit langen Einstellungen gedreht, wobei Archivmaterial, Traumsequenzen und schnelle Schnitte zwischen bestimmten Sequenzen einen vollständigen Eindruck von Realismus vereiteln.

In einem Interview mit dem Cinéaste Magazine sagte der englische Kunstkritiker und Dichter John Berger, der häufig mit Tanner zusammenarbeitete (Jonah war ihr letzter gemeinsamer Film), im Jahr 1980:

“Meine eigene Formulierung über Godard ist, dass er der grosse Filmkritiker unserer Zeit ist, aber im Gegensatz zu den meisten Filmkritikern schreibt er seine Kritik nicht in Worten, sondern macht Filme, die Kritik am Film sind. […] Alain hingegen ist im Wesentlichen ein Geschichtenerzähler, das ist eine andere Funktion.”

Alain Tanner und eine Schulklasse
Der Schweizer Filmregisseur Alain Tanner bei den Dreharbeiten zu “Jonah Who Will Be 25 in the Year 2000”, 1975. Im Hintergrund eine Genfer Schulklasse, die an dem Film mitgewirkt hat. Keystone/Photopress-Archiv

Die Politik der kleinen Gesten

Was Tanners Film so fesselnd macht, sind die kleinen Gesten der Politik. In Jonah gehen Arbeit, Politik und Spiel ineinander über. Die Arbeit erscheint wie ein Spiel, während das Spiel für Tanners politische Dimension entscheidend wird.

Während des gesamten Films umkreist die Kamera die Gespräche der Figuren beim Abendessen, ob sie nun über Sex oder über Lebenshaltungskosten sprechen, und suggeriert, dass das Gespräch, die Gemeinschaft, der Austausch und natürlich das Essen der Ort ist, an dem alle politischen Diskussionen und die Mobilisierung beginnen.

In einer Szene stellt Mathieu den Kindern im Unterricht eine Reihe schnoddriger Fragen: “Fühlt der Wind die Wolken? Kann Wasser fühlen? Weiss die Sonne, dass sie Sonne heisst?” In einer anderen Szene verwandelt Marco das Klassenzimmer in eine Art Spielküche, in der er Geschichte symbolisch anhand einer Blutwurst vermittelt.

Der Film bringt das kindliche Staunen und Lachen in die Welt der Erwachsenen zurück, eine entscheidende Neugierde, die notwendig ist, um neue Welten zu hinterfragen und sich vorzustellen.

Hier gleicht die Arbeit der Erwachsenen oft einer Art Spiel. Mathieu steht auf einem Berg von Mist und erklärt: “Ich bin der König der Scheisse”, während Marie, die Kassiererin, bei ihrer Arbeit “spielt”. Sie mustert die Leute, um schicksalhaft zu entscheiden, wer eine “ermässigte” Bestellung verdient hat.

Wenn sie ihren Nachbarn besucht, um seine Lebensmittel auszuliefern, führen sie häufig ein Rollenspiel entlang ihrer Erinnerungen auf. Oft ist das lustig, manchmal aber auch tragisch, wenn sie ihre Erinnerungen an das Leben im Gefängnis nachspielen.

Ein Mann mit einem Gewehr an einer Schiessbude, daneben eine Frau im Pelzmantel.
Myriam Mézières und Jean-Luc Bideau in einer Szene aus “Jonah”. Credit: United Archives Gmbh / Alamy Stock Photo

Das Spiel mit der Kamera

Die Kamera ist für Tanner Teil des Spiels. Die Aufnahmen werden oft etwas zu lange gehalten oder kurz bevor die Zuschauenden es erwarten würden, abgeschnitten.

Auch die Kamerabewegungen irritieren: Die Kamera bewegt sich, wenn die Figuren stillstehen, und sie bleibt still, wenn sie sich aus dem Bild herausbewegen.

Hier lässt Tanner sowohl die strukturellen als auch die ästhetischen Erwartungen kollabieren. Stattdessen kollidieren die Räume und die Figuren und ihr Sinn für die Welt werden ständig in Frage gestellt.

Obwohl der Film viele der Probleme aufzeigt, mit denen wir auch heute noch konfrontiert sind, wie steigende Lebenshaltungskosten, dogmatische Schulsysteme oder belastete Lebensmittel, bietet der Film auch Hoffnung, indem er die Möglichkeit eines Neuanfangs schildert.

Im gesamten Film wird die Dynamik des Lernens in den Vordergrund gestellt. Die Kinder lernen auf dem Bauernhof zu zeichnen, zu singen und zu spielen.

Viele Szenen spielen in einem Klassenzimmer, in dem die Tafel oft nicht benutzt wird, und statt der üblichen Stille ist das Klassenzimmer von scherzenden und lachenden Stimmen erfüllt.

Häufig bringt Marco andere mit, um die Kinder zu unterrichten. Marie zum Beispiel, und die Schüler:innen befragen sie über die Prekarität ihrer Arbeit und lernen etwas über Klassen- und Geschlechterkämpfe.

Hommage an ein filmisches Lebenswerk: Alain Tanner posiert mit dem "Ehrenleoparden" beim 63. Internationalen Filmfestival von Locarno 2010.
Hommage an ein filmisches Lebenswerk: Alain Tanner posiert mit dem “Ehrenleoparden” beim 63. Internationalen Filmfestival von Locarno 2010. Keystone/Jean-Christophe Bott

Indem er zu alternativen Formen der Pädagogik auffordert, entlarvt Jonah die Ideologie, die dem bürgerlichen Schulsystems anhaftet, die Förderung des Wettbewerbsgeistes durch Noten oder den Ausschluss derjenigen, die als “fremd” in der Gesellschaft gelten.

Im Film stehen sich die Schüler:innen und ihr Lehrer Marco auf Augenhöhe gegenüber. Wenn er die Klasse darum bittet, etwas von sich preiszugeben, bestehen die Schüler:innen darauf, dass auch er bereit ist, sich zu exponieren und verletzlich zu machen. Reziprozität, Offenheit und der Verzicht auf Wertungen sind die Grundlagen dieses alternativen Schulsystems.

Zyklen von Hoffnung und Enttäuschung strukturieren den Film; der Chor der Stimmen hallt aus ihrer Welt in unsere Gegenwart. Jonah blickt nach draussen und sieht beides: grüne Wiesen und die drohende Apokalypse.

Cici Peng ist Filmjournalistin, Programmiererin und Produzentin und lebt in London. Sie hat für die Financial Times, TANK, LWLies, Dazed & Confused und i-D geschrieben. Sie hat Vorführungen und Veranstaltungen am British Film Institute, am Institute of Contemporary Arts und am Barbican programmiert. Derzeit ist sie Mitglied des Vorauswahlkomitees für die “Currents”-Kurzfilme des New York Film Festivals.

Editiert von Virginie Mangin and Eduardo Simantob/ts

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