Die fliessenden Grenzen des neuen Europas
Welche Impulse geben die Länder des Ostens für Kultur und Gesellschaft im neuen Europa? Wo positioniert sich die Schweiz? Wie wird Fremdsein produktiv? Diese Fragen diskutieren Literaten und Wissenschafter in vier Schweizer Städten.
Provokativ polemisch eröffnet der österreichische Schriftsteller und Essayist Robert Menasse die zehntägige Veranstaltungsreihe «Absolut Zentral» im Berner Kornhaus: «Es stimmt gar nicht, dass wir in Europa eine Wirtschaftskrise haben. In Wirklichkeit handelt es sich um eine institutionelle Krise der EU. Der Europäische Rat gehört abgeschafft. Dennoch ist die EU das beste Projekt, das dieser Kontinent je hervor gebracht hat.»
Das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU sabotiere systematisch die Idee eines gemeinsamen Europas, weil die einzelnen Vertreter bloss ihre nationalen Interessen verfolgen würden.
Dabei sei die EU mit dem Ziel gegründet worden, nach dem Zweiten Weltkrieg den Nationalismus zu überwinden, führt Menasse aus und ergänzt: «Die Schweiz ist ein Labor des Zusammenspiels vieler Sprachen und Stämme und verkörpert damit auf ideale Weise die Idee der EU. Dass sie nicht Mitglied, aber durch unzählige Verträge wirtschaftlich und politisch eng verflochten ist, zeigt, dass der Europäische Rat überflüssig ist.»
Dennoch plädiert der Österreicher für eine Mitgliedschaft der Schweiz, die sicher keine nationalistischen Impulse in die EU bringen würde. Diese Behauptung weckt lauten Widerspruch im Publikum. Der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy wendet ein, dass Nationalismus aus Angst entstehe: «Diese führt zur Bildung eines starken Wir-Gefühls und der Abgrenzung gegen andere. Die nationalistischen Tendenzen sind heute stärker als früher.»
In den Zwischenräumen Europas
Über das «Fremdsein als Zustand» diskutieren drei in den Zwischenräumen des globalisierten Europas lebende und schreibende Autorinnen und Autoren. Melinda Nadj Abonji, die 2010 mit dem Schweizer und dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, ist 1968 im ungarischsprachigen Teil Serbiens geboren worden und im Alter von fünf Jahren in die Schweiz gekommen, «mit einem Wort und einem Koffer», wie sie sagt. Lesend hat sie sich die deutsche Sprache angeeignet, in der sie sich heute zuhause fühlt.
«Zuhause in der Fremde», heisst ihr Essay über kindliche Integrationsversuche. «In meinem Schreiben ist die Bewegung elementar, mit der Sprache gehe ich fremd, um die Vielstimmigkeit der Figuren hörbar zu machen. Das Fremde ist nicht nur das andere, sondern es führt zu etwas hin, wirkt produktiv», sagt die Schriftstellerin.
Wie Melinda Nadj Abonji bezeichnet auch die aus St. Petersburg stammende und heute in Wien lebende Julya Rabinowich die deutsche Sprache als Zentrum ihrer Identität. «Entwurzelt und umgetopft nach Wien», ist das Fremdsein ihr Dauerthema, sowohl beim Schreiben wie bei ihrem Job als Dolmetscherin.
Als Brückenbauer und Grenzgänger zwischen Islam und Christentum bezeichnet sich der bosnische Autor Dzevad Karahasan, der in Sarajewo und Graz lebt. Er hält nichts von «rationalistischen Fundamentalisten», die das eigene Ich als Basis des Erkenntnisprozesses ansehen. Den Satz «Ich denke, also bin ich» von Descartes wandelt er um in: «Jemand denkt an mich, also bin ich.» In seinen Geschichten sind die Menschen auf der Reise, ohne je anzukommen.
Die russisch-schweizerische Grenze
Kein Problem mit seiner Identität hat der in der Schweiz lebende Michail Schischkin: «Ich gehöre zur Tradition der russischen Literatur, bin ein russischer Autor, der Russisch schreibt und seine Erfahrungen in der Schweiz in das Schreiben einfliessen lässt», sagt er.
Nach seinem Roman «Die russische Schweiz» hat er in «Venushaar» seine Erfahrung als Dolmetscher fürs Migrationsamt in Zürich verarbeitet. In den Gesprächen mit russischen Asylsuchenden bewegt sich Schischkin an einer Grenze, die es geografisch gar nicht gibt – diejenige zwischen Russland und der Schweiz.
In Russland habe die Literatur einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft, sagt der Autor: «Als ich 16 Jahre alt war, bedeutete das Lesen für mich der einzige Ort, an dem ich nicht erniedrigt war, wo nicht gelogen wurde, wo die menschliche Würde geachtet wurde.»
Wenn die Politik ihre Glaubwürdigkeit eingebüsst hat, kommt der Literatur eine besondere Bedeutung zu, meint auch Andrej Kurkow, der Russisch schreibende Bestsellerautor aus der Ukraine. Und er ist überzeugt: «Die Leser sind gescheit, sie vertrauen den Schriftstellern mehr als den Politikern.»
Vom 15. bis 25. September diskutieren 33 Literaten, Publizisten und Wissenschafter aus ganz Europa über die Zukunft einer gemeinsamen europäischen Identität.
Unter anderen nehmen der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, der österreichische Autor Robert Menasse, der deutsche Historiker Karl Schlögel, der ungarische Autor Peter Esterhazy und die Schweizer Autorin Melinda Nadj Abonji teil.
Die Lesungen, Vorträge und Diskussionen finden in Bern, Biel, Thun und Burgdorf statt. Unterstützt wird die Veranstaltungsreihe von den beteiligten Städten, Pro Helvetia, Migros Kulturprozent u.a.
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