Die Frau mit der Fackel führt die amerikanische Invasion des Filmfestivals von Locarno an
Ehsan Khoshbakht, ein in London lebender iranischer Filmkritiker, kuratiert einen der Höhepunkte von Locarno: eine Retrospektive von Columbia-Pictures-Klassikern aus den 1930er- bis späten 1950er-Jahren. Wir haben mit ihm über die Faszination für diese Filme gesprochen.
Das Filmfestival von Locarno ist eine der fruchtbarsten Plattformen, um neue Talente zu entdecken. Aber auch eine der besten Adressen, um in die Geschichte des Kinos einzutauchen. Jedes Jahr konzentriert sich eine Retrospektive auf ein bestimmtes Thema, wie nationale Filme, Genres oder Autoren.
Das mexikanische Populärkino der 1940er- und 1950er-Jahre, Douglas Sirk, der Meister des Melodrams, die Meilensteine des schwarzen Films auf allen Kontinenten – das sind nur einige der jüngsten Retrospektiven, die in Locarno gezeigt wurden und anschliessend durch mehrere Länder tourten.
Dieses Jahr erwartet die Besucher:innen unter dem Titel «The Lady with the Torch» eine Retrospektive mit 40 Filmen von Columbia PicturesExterner Link, die in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque Suisse realisiert wurde.
Der 1981 im Iran geborene Khoshbakht wuchs in der Zeit auf, als die Islamische Republik die Künste am stärksten zensierte.
Als aufkeimender Cineast vor der Ära des Internets, der Computer und der Raubkopien war die einzige Möglichkeit, seinen Hunger nach Filmen zu stillen, ein Untergrundnetzwerk, das die Kunst des Lichts in dunklen Zeiten am Leben hielt.
Diese Geschichte wird in Khoshbakhts neuestem Dokumentarfilm Celluloid UndergroundExterner Link erzählt, der letztes Jahr auf dem Londoner Filmfestival uraufgeführt wurde.
Khoshbakht ist einer der Direktoren und Hauptorganisatoren von Il Cinema Ritrovato in Bologna, einem einzigartigen Festival, das sich ausschliesslich mit der Geschichte des Kinos beschäftigt.
Für die diesjährige Ausgabe von Ritrovato hat er eine aufschlussreiche Retrospektive des in Kiew geborenen Regisseurs Anatole Litvak zusammengestellt, der zwischen den 1930er- und 1970er-Jahren in Frankreich, Deutschland und Hollywood Filme drehte.
Im Jahr 2023 kuratierte Khoshbakht für das Museum of Modern Art (MoMA) in New York das umfangreichste Programm des vorrevolutionären iranischen Kinos.
Neben seiner Programmarbeit ist er Autor mehrerer Bücher in persischer Sprache zu Themen wie westliche Filme, klassisches Hollywood-Kino sowie Film und Architektur.
SWI swissinfo.ch: Haben Sie bemerkenswerte Erinnerungen an Columbia-Filme aus Ihrer Kindheit?
Ehsan Khoshbakht: Columbia war eines der ersten Studios, das in das Fernsehgeschäft einstieg. In den 1950er Jahren begann eine Generation von Menschen, die die Filme der 1930er- und 1940er-Jahre nicht gesehen hatte, die Three Stooges im Fernsehen zu sehen, die schlagartig zu einem Kultphänomen wurden. Ihre Filme waren immer kurz, etwa 15 Minuten.
In den 1950er Jahren begann man, Spielfilme mit ihnen zu drehen, um von diesem neu entdeckten Erfolg zu profitieren. Der erste Film von Columbia Pictures, den ich sah, war einer dieser Three Stooges-Filme, Have Rocket, Will Travel, im iranischen Fernsehen.
Es ist ein Science-Fiction-Film mit einer Szene, in der eine Riesenspinne die Stooges auf dem Mond jagt. Das hat mich sehr beeindruckt! Seit meiner Jugend war ich ein grosser Fan von Glenn Ford. Später wurde mir klar, dass er eng mit Columbia verbunden ist.
Wodurch unterscheidet sich Columbia Pictures von den anderen Hollywood-Studios?
Das System der Studios beruhte auf langen Verträgen, die in der Regel etwa sieben Jahre dauerten und durch die verschiedene Arbeitnehmende, insbesondere Stars, die wie Arbeitstiere behandelt wurden, gebunden und ausgebeutet wurden.
Columbia hatte jedoch keine solchen langen Verträge, da sie kein Risiko eingehen wollten, indem sie jemanden für einen langen Zeitraum anstellten, der beim Publikum in Ungnade fallen könnte.
Stattdessen wurden sie im Wesentlichen zu einem Studio von «Freiberuflern». Das bedeutete, dass sie verschiedene Stimmen, Talente und Visionen hatten, die ständig ein- und ausgingen.
Die Kehrseite dieser Entwicklung war vielleicht ein gewisser Eklektizismus, denn das Studio entwickelte keinen eigenen Stil wie größere Konkurrenten wie Warner Brothers oder MGM.
Columbia wird zwar nicht zu den fünf «grossen» Hollywood-Studios gezählt, war aber auch nicht gerade ein armes B-Movie-Studio, sondern stand irgendwo dazwischen und machte etwas ganz anderes als andere Studios, ob reich oder arm.
Columbia hatte faszinierende Variationen, die sowohl einer breiteren Definition des Studiosystems entsprechen als auch davon abweichen.
Können Sie etwas über die bescheidenen Anfänge von Columbia in den späten 1910er- und den 1920er-Jahren erzählen?
Das Studio begann mit sehr geringen Mitteln und entwickelte sich sehr behutsam und diskret. Von den späten 1920er-Jahren bis in die späten 1930er-Jahre sind der Erfolg und das Ansehen von Columbia mit einem einzigen Namen verbunden: Frank Capra.
Das war für die Hollywood-Studios sehr ungewöhnlich, denn diese hatten viele Regisseure, auf die sie sich verlassen konnten. Bei Columbia ging es jedoch darum, die richtigen Stars oder Regisseure zu finden und auf sie zu setzen, ohne das Risiko einzugehen, zu viele Namen und Gesichter gleichzeitig zu haben.
Nachdem man Rita Hayworth entdeckt hatte, versuchte man kaum noch, andere Talente neben ihr zu finden. Andere Stars wurden organisch geboren oder kultiviert, nachdem Hayworth anfing, an den Kinokassen schlecht abzuschneiden.
Ausserdem war die Budgetierung bei Columbia ganz anders als bei anderen Studios. Das Budget eines so genannten «A»-Films bei Columbia entsprach eher dem eines «B»-Films bei grossen Studios wie MGM.
Bestimmte Arten von Filmen, die höhere Budgets erforderten, wie Musicals, wurden bewusst vermieden, und wenn doch, musste man auf interne Talente wie Komponisten, Choreographen und Tänzer zurückgreifen.
Um den Herausforderungen in der Produktion zu entgehen, konzentrierten sie sich auf die Geschichte: Jede Geschichte, die in drei Räumen erzählt werden konnte, war Columbias Sache.
Sie waren die Meister der «Drei-Raum-Filme». Mit dem Erfolg früherer Filme, vor allem, nachdem Capra in den 1930er Jahren den Oscar gewonnen hatte, wurden die Ambitionen allmählich grösser.
Dieses wachsende Selbstvertrauen hielt bis zum letzten Jahr dieses Programms, 1959, an. Aber auch nach diesem Jahr drehten sie weiterhin grosse Kassenschlager.
Wie sind Sie bei der Auswahl der Filme für die Retrospektive vorgegangen?
Ich druckte mir den gesamten Erscheinungsplan von Columbia Pictures von 1929 bis 1959 aus und begann, so viele Filme wie möglich zu sehen.
Ich sah mir mindestens einen Titel pro Erscheinungsmonat an, weil sich hier Muster herausbilden. Dabei achtete ich auch darauf, dass alle wichtigen Stars und Genres abgedeckt waren.
Nachdem ich eine Liste der Filme erstellt hatte, die für Columbia repräsentativ sein könnten, musste ich entscheiden, welche Filme ich weglassen wollte.
Ich musste Kategorien erstellen und sicherstellen, dass ich von jeder Kategorie genügend Filme gesehen hatte: Filme von Regisseuren, die mehr als eine bestimmte Anzahl von Filmen für das Studio gedreht hatten (wie Roy William Neill), absolute Klassiker und unterbewertete Filme von grossen Regisseuren, grosse obskure Filme und schliesslich Filme mit oder über Frauen.
Letzteres war einer der grössten Pluspunkte von Columbia. Ironischerweise war das Studio, das den frauenfeindlichen Harry Cohen an der Spitze hatte, gleichzeitig ein fruchtbarer Boden für viele weibliche Talente als Produzentinnen, Autorinnen und auch mindestens eine Regisseurin, Dorothy Arzner.
Virginia Van Upp, die erste weibliche ausführende Produzentin in der Geschichte Hollywoods, wurde bei Columbia eingestellt. Und sie produzierte Gilda!
Warum ist Locarno das ideale Festival für diese Retrospektive?
Zunächst einmal ist es eine Frage der Ressourcen. Nicht viele Festivals sind in der Lage oder bereit, grosse Retrospektiven zu veranstalten.
In gewisser Weise ist Locarno das einzige grosse Festival der Welt, das noch solche grossen Projekte durchführen kann: Filme in der besten verfügbaren Qualität zeigen (einschliesslich vieler 35-mm-Kopien), ein Buch mit Original-Essays herausgeben und dabei eine gewisse Qualität beibehalten.
Ich habe ein Buch mit Interviews mit dem verstorbenen Michel Ciment gelesen, einem der Herausgeber der [Kinozeitschrift] PositifExterner Link, der eine Geschichte aus seiner Zeit in der Locarno-Jury mit [dem iranischen Regisseur] Abbas Kiarostami erzählte.
Sie sahen sich morgens Filme von Yasujirō OzuExterner Link an, der wohl das Thema der damaligen Retrospektive war, und nachmittags die Filme, die sie zu beurteilen hatten.
Diese Kombination, die dem Publikum gleichzeitig die Vergangenheit und die Gegenwart des Kinos zugänglich macht, ist der Schlüssel zum Erfolg eines jeden Filmfestivals, auch wenn die meisten dies völlig ignorieren.
Ihr neuer Film, der Dokumentarfilm Celluloid Underground, wurde gerade veröffentlicht. Wie ist die Dynamik zwischen Ihrer Arbeit als Kurator und als Filmemacher?
Ich mache Filme über Filme und Themen, die ich nicht zeigen kann; entweder wurden Filme über sie gemacht, oder sie sind nicht zugänglich. Mein Filmemachen ist also eine Erweiterung meiner Arbeit als Kurator, um die Lücken zu füllen
Mein erster Film, Filmfarsi (siehe Trailer unten), handelte vom iranischen Volkskino vor der Revolution, dessen Filme heute verboten sind.
Dasselbe gilt für Celluloid Underground. Es ist die Geschichte, wie das Verbot ausländischer Filme nach der Revolution meine Art der Cinephilie beeinflusst hat.
Editiert von Eduardo Simantob/ts, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch