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«Die gleichen Kleinbürger wie wir Schweizer»

Peter Bichsel, Schriftsteller und Philosoph. Keystone

Peter Bichsel, der wohl bekannteste lebende Schweizer Schriftsteller, ist 75 Jahre alt geworden. Er sinniert mit swissinfo.ch über ein paar Stationen seines Lebens und blinzelt auch ein wenig in die Zukunft.

Am 24. März feierte Peter Bichsel seinen 75. Geburtstag. Er gilt nicht als Vielschreiber, seine Bekanntheit gründet auf wenige, dünne Bücher, unter anderen «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen», den «Kindergeschichten», die fast jedes Kind in der Schweiz kennt und seinen regelmässigen Kolumnen.

Bichsels Jubiläum wurde auch mit einem Film begangen (Zimmer 202 von Eric Bergkraut), in dem Bichsel nach Paris reist und vier Tage im Gare de l’Est bleibt.

swissinfo.ch: Peter Bichsel ist zum Filmstar geworden. Bereuen Sie diesen Schritt?

Peter Bichsel: Es wäre schön, wenn das Filmemachen so wäre, wie die Leute den Film sehen. Es gab ja schon andere Filme über mich. Ich kenne das, aber ich vergesse es immer wieder. Die Filmemacher sagen: «Bewege Dich, mache, was Du willst. Wir folgen Dir mit der Kamera. Du wirst uns gar nicht bemerken.»

Aber schon am ersten Tag heisst es dann: «Kannst Du das noch einmal machen? Machst Du das noch mal?» Auch ein Dokumentarfilm wird hergestellt. Die Zuschauer haben immer die Vorstellung, «So ist es Eins zu Eins».

swissinfo.ch: Haben Sie beim Betrachten des Films den Eindruck, dass Sie das sind, der auf der Leinwand agiert?

P. B.: Die Person ist mir so fremd, wie wenn ich meine eigene Stimme höre. Das kennen inzwischen alle Leute. Der Schrecken über die eigene Stimme, die ganz anders klingt, als man sie selbst hört. An Fotografien hat man sich gewöhnt, da sieht man viele. Das ist nicht so schlimm. Aber wenn dann die Bewegung dazu kommt…

Ich rede nicht nur anders, von meiner Seite her. Ich bewege mich auch anders, als so wie die anderen meine Bewegungen sehen. Also, von mir aus gesehen, bin nicht ich das, in diesem Film. Das ist ein Doppelgänger von mir, ein Doppelgänger, der mir sehr gleicht.

Ich musste mich an Ihn gewöhnen. Nicht, dass ich nicht eitel wäre, ich bin sehr eitel. Ich würde sogar sagen, er gefällt mir nicht so sehr, weil ich zu eitel bin.

swissinfo.ch: Im Film erfährt man, dass Sie sich jeden Morgen ein Menü kochen. Was haben Sie heute zubereitet?

P. B.: Heute waren es Dörrbohnen, Kartoffeln und ein «Soischnörrli», ich weiss gar nicht, wie man dem auf Hochdeutsch sagt [Schweinenase, Red.].

Ich bin ein Morgenmuffel, es dauert lange, bis ich sprechen kann. Und kochen, das Essen vorbereiten, ist eine wunderbare Tätigkeit zum Erwachen.

Das Essen findet ein bis eineinhalb Stunden statt, nachdem ich aufgestanden bin. Ich stehe auf und beginne zu kochen.

swissinfo.ch: Was ist Ihr Leibgericht?

P. B.: Ein Mensch, der einen Lieblingswein hat, versteht überhaupt nichts von Wein. Und ein Mensch, der ein Lieblingsbuch hat, ist sicher kein Leser. Und ein Mensch, der ein Lieblingsgericht hat, hat keine Ahnung vom Essen.

Ich habe Unlieblingsgerichte, eine ganze Menge. Dazu gehört diese so genannte Haute Cuisine. Das ist schrecklich! Ich verliere den Appetit bei weiss gedeckten Tischen.

Politisch bin ich gewiss nicht auf der bürgerlichen Seite. Aber ich mag die so genannte gutbürgerliche Küche. Auch chinesisch Kochen ist für mich ein Teil der gutbürgerlichen Küche.

swissinfo.ch: Was bedeutet Ihnen Ihre Familie, die Kinder und Enkelkinder?

P. B.: Ich war fünfzig Jahre verheiratet, bis meine Frau starb, wir hatten es gut, wir hatten es schön zusammen. Ich mag meine Kinder, ich finde sie grossartig und meine drei Enkelkinder finde ich wunderbar.

Aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, ich wäre ein Familienmensch. Ich bin viel eher ein Einzelgänger und habe eine Neigung zum Junggesellentum. Und meine wunderbare Frau hatte Verständnis dafür. Sie liess mir meine eigene Welt, und sie hatte ihre.

Ich hatte immer wieder Verständnis dafür, dass meine Frau eine ganz andere Beziehung hatte zu den zwei Enkelinnen und zum Enkel. Nämlich eine körperliche. Ich selbst habe die Stimme des Blutes noch nie verspürt oder gehört. Ich glaube, ein Mann, der das so behauptet, lügt. Für Frauen mag das wichtig sein.

Aber ich mag meine Enkel sehr. Ich habe gesehen, wie sie aufgewachsen sind. Aber das hätten auch Nachbarskinder sein können. Und ich hätte die auch sehr gerne bekommen.

Ich zögere, wenn mir die Frage gestellt wird, was mir die Familie bedeutet. Ich glaube, wir sind bei dieser Frage zu schnell bereit zu lügen.

swissinfo.ch: Ihr Lebensmittelpunkt war und ist Solothurn…

P. B.: Nein, ganz bestimmt nicht. Mein Lebensmittelpunkt waren die Bücher, die ich gelesen habe. Ich muss das so formulieren, weil ich heute fast nur noch Bücher lese, die ich bereits gelesen habe. Also noch einmal Jean Paul, noch einmal Joseph Conrad. Und diese Bücher hätte ich auch anderswo lesen können.

Nein, Solothurn nicht. Die Schweiz schon eher. Ich habe meine Heimat dort, wo ich meinen Ärger habe. Ich kann New York so gut kennen, wie ich will, Ich komme dort nicht dazu, mich zu ärgern. Weil es mich ja letztlich nichts angeht.

swissinfo.ch: Sie waren mal für ein Jahr Stadtschreiber in Deutschland, sie hatten einen Lehrauftrag in den USA. Haben diese Auszeiten von der Schweiz Sie geprägt?

P. B.: Ja bestimmt, Das geht ja nicht einfach so an einem vorüber. Das hat mich geöffnet. Ich habe gelernt, dass die Leute gar nicht so unterschiedlich sind, wie wir glauben. Erst nach Jahren in New York merkte ich, im Grunde sind es haargenau die gleichen Kleinbürger wie wir Schweizer. Und da ist überhaupt nichts Weltmännisches dabei.

Ich habe festgestellt, dass in der schäbigen Kneipe in Bergen bei Frankfurt genau dieselben Leute mit genau denselben Wünschen sitzen wie bei uns.

Das Deutschvokabular eines hessischen Industriearbeiters ist nicht grösser als das hochdeutsche Vokabular eines Schweizer Industriearbeiters. Der Schweizer hat aber den Vorteil, dass er noch eine Mundart hat, die sehr viel reicher ist, als sein Hochdeutsch.

swissinfo.ch: Mundart – Hochsprache: Ein Spannungsfeld für Sie?

P. B.: Ich geniesse es, in einer etwas anderen Sprache schreiben zu dürfen. In der Kunstsprache Schriftdeutsch und in der Alltagssprache Mundart denken und leben zu können.

Es ist mir völlig unvorstellbar, wie ein Autor in haargenau derselben Sprache schreibt, die er spricht. Das würde etwa für einen französischen Intellektuellen zutreffen. Ich wäre unter diesen Bedingungen kein Schriftsteller geworden. Das hätte mich nicht interessiert.

Die Mundart ist grammatikalisch eine reichere Sprache. So können wir im Alemannischen aus jedem Verb ein Substantiv machen.

Ich war mal bei Günter Grass im Tessin. Seine Schweizerdeutsch sprechenden Kinder kamen nach Hause vom Schwimmen, und der eine sagte, «Ich cha dr Rüggeschwumm». Grass konnte sich vor Begeisterung nicht mehr erholen. Auf Hochdeutsch würde das heissen: «Ich kann in Rückenlage schwimmen».

swissinfo.ch: Warum schreiben Sie denn nicht Mundart?

P. B.: Natürlich gibt es Mundartschreibversuche von mir. Ich habe auch schon mal kleine Sachen gemacht. Oder mal für Günter Grass eine lange Geschichte in Mundart übersetzt, als Geschenk.

swissinfo.ch: Haben Sie ein Stück Kultur mitgebracht, von den Orten an denen sie längere Zeit weilten?

P. B.: Eines ganz sicher, da haben wir schon davon gesprochen: Das mit dem Kochen am Morgen hat nämlich so angefangen. Mit dem amerikanischen Frühstück im US-Coffeeshop: Bratkartoffeln, Spiegeleier und Speck.

Als ich dann zurückkam aus Amerika, habe ich mir das zu Hause auch gemacht. Und eines Tages dachte ich, ich könnte statt Speck ein Steak machen. Und statt Bratkartoffeln könnte ich Kartoffelstock oder Nudeln zubereiten.

Amerikanisiert wurde ich eigentlich nie. Ich habe auch nicht das geringste Talent für Fremdsprachen. Das ist wohl auch eine Folge meines Trotzes, meiner schweizerisch bäuerlichen Dickschädeligkeit.

Ein grosses Elend unserer Zeit ist für mich die Amerikanisierung unserer Gesellschaft. Mich stört nicht, dass sich ein paar englische Fremdwörter in unserer Sprache einnisten. Ich habe da gar nichts dagegen und finde sie meistens schön.

Aber es gibt Anderes, das da auf uns zukommt. Zum Beispiel die Privatisierung der Öffentlichkeit. Es gibt keinen öffentlichen Raum mehr. Es gibt diese grossen Kneipen nicht mehr, wo sich ganz Solothurn traf, hinten an weiss gedeckten Tischen die etwas Höheren, dann die Mittleren und die Säufer vorn und gegen Mitternacht vermischte sich das dann ein bisschen. Man war untereinander, man kannte sich. Das ist in Amerika unbekannt.

swissinfo.ch: Sie haben mal gesagt, sie mögen Macht nicht, sie mögen sie nicht ausüben und Sie möchten auch nicht der Hofnarr der Macht sein. Gilt das auch heute noch für Sie?

P. B.: Sicher, ich bin absolut überzeugt. Wer Macht will, muss Angst verbreiten. Die Macht basiert auf nichts anderem als auf Angst.

Es gibt eine Staatsmacht, die ist sinnvoll. Aber auch sie gründet auf Angst. Und es gibt private Macht.

Es ist mir völlig schleierhaft, dass es Menschen gibt, denen es Spass bereitet, gefürchtet zu sein. Mit würde das überhaupt keinen Spass machen, in allen Beziehungen nicht.

Aussprüche von Politikern wie: «Ich habe ein gesundes Verhältnis zur Macht», sind grauenhaft, wenn man sie hinterfragt.

swissinfo.ch: Unterscheidet sich die heutige Politik von jener vor 20, 30 Jahren?

P. B.: Ja, da hat sich etwas grundsätzlich geändert. Zur Zeit Willi Ritschards, Ende der 1970er Jahre, verstanden sich die Bundesräte nicht als Regierung. Sie begriffen sich als Repräsentanten eines verwalteten Staates.

Bei den Bundesratssitzungen kamen sie zusammen mit ihren Unterlagen, die von ihren hervorragenden Beamten bearbeitet worden waren. Sie haben darüber diskutiert und wenn einer Bedenken anmeldete, schloss der zuständige Bundesrat sein Dossier und sagte, «das gehe ich nochmal fragen.»

Das Grossartige an diesem System Schweiz war, dass das immer ein verwalteter und nicht ein regierter Staat war. Dieser Staat hat über 150 Jahre sehr gut funktioniert. Die Beamten, die den Staat verwaltet hatten, müssen sehr seriös gewesen sein.

Inzwischen wird versucht im Bundesrat zu regieren. Jetzt wird auf den Tisch gehauen. Jetzt wird regiert. Und ich fürchte, unser politisches System erträgt keine Regierung.

Ich hatte immer den Eindruck, als der Mann von der SVP [Christoph Blocher, Red.] in den Bundesrat kam, und sagte, so, jetzt wird regiert, waren die anderen eigentlich glücklich, weil jetzt durften sie auch.

Und sie mussten auch nicht mehr miteinander sprechen. Da ist etwas kaputt gegangen. Denn, wo die Macht durchbricht, geht die Kommunikation kaputt.

Das betrifft auch diese CEO-Laffen der Grossbanken, die auch auf den Tisch hauen und Macht ausüben. Auch die Superboni fördern die Kommunikation im Betrieb nicht.

swissinfo.ch: Ein politischer Blick in die Zukunft?

P. B.: Heute gibt es nur noch diese blöde Party- und Grillgesellschaft. Es treffen sich immer dieselben zwanzig, dreissig Leute um einen Grill. Und Männer, die nicht kochen, aber Feuer machen können, kaufen dann das teuerste Filet und braten es zweieinhalb Stunden lang «knusprig», wie sie sagen. Und sie finden das grossartig. Und übermorgen ist dann dieselbe Gesellschaft bei Fritz und am Sonntag bei Paul…

Ich weiss nicht, ob unsere Demokratie diese moderne Party- und Grillgesellschaft ertragen wird.

Aber eines weiss ich. Wie auch immer unser System in 20 oder 60 Jahren aussieht, und wenn es einen knallharten Polizeistaat gibt, die Leute werden das Demokratie nennen. Und nicht bemerken, dass sich etwas verändert hat.

Etienne Strebel, Solothurn swissinfo.ch

Geboren am 24.3.1935 in Luzern

Kindheit verbracht in Olten

1955-1968: Primarlehrer, dann freier Schriftsteller

1964: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen»

1965: Preis der Gruppe 47, Stipendium des Lessingpreises der Freien und Hansestadt Hamburg

1966: Förderungspreis Olten

1969: «Kindergeschichten», «Des Schweizers Schweiz»

1970: Dt. Jugendbuchpreis

1973: Schweiz. Hörspielpreis

1973 bis 1980: persönlicher Berater von Bundesrat Willy Ritschard

1978: Kunstpreis Kanton Solothurn, Literaturpreis Kanton Bern

Über 30 Jahre Kolumnist bei verschiedenen Presseerzeugnissen

1979: Geschichten zur falschen Zeit»

1981/82: Stadtschreiber von Bergen bei Frankfurt/Main)

1983: Werkjahr Pro Helvetia

1985: «Der Busant»

1986: Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg

1987: Preis der Schweiz. Schillerstiftung

1993: «Zur Stadt Paris. Geschichten»

1996: Stadtschreiber-Literaturpreis Mainz

1998: «Die Totaldemokraten» Aufsätze über die Schweiz

1999: «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer», Gottfried-Keller-Preis

2000: Preis Charles Veillon, «Alles von mir gelernt»

2002: «Eisenbahnfahren»

2004: «Das süsse Gift der Buchstaben. Reden zur Literatur»

2005: Werkbeitrag Pro Helvetia, «Kolumnen, Kolumnen»

2007: «Dezembergeschichten»

2008: «Heute kommt Johnson nicht»

Bichsel war auch Stadtschreiber und Writer-in-Residence in verschiedenen tädten Europas und Amerikas

Er ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt.

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