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Die historische Bürde der Raubkunst in der Schweiz lastet auf ihren Schultern

Nikola Doll blickt in die Kamera.
Sieben Jahre lang hat Nikola Doll die Nachforschungen über die bewegte Geschichte der Kunstsammlung von Cornelius Gurlitt geleitet. BAK/Annette Koroll

Nachdem die Schweizer Regierung der Herkunft von Raubkunst lange wenig Beachtung schenkte, wird das Thema jetzt angegangen. Nikola Doll ist neu beim Bund für Raubkunst und Provenienzforschung zuständig. Dabei muss sie sich heiklen Fragen stellen.

Als der zurückgezogen lebende Cornelius Gurlitt vor zehn Jahren seine problematische Kunstsammlung dem Kunstmuseum in Bern vermachte, löste dies einen neuen Impuls in der Schweizer Politik gegenüber NS-Raubkunst aus.

Er hält bis heute an. Nikola Doll hat die Entwicklungen in den sieben Jahren, in denen sie die Forschung zur Besitzgeschichte von Gurlitts Kunst leitete, hautnah miterlebt.

In diesem Monat trat sie eine neue Stelle im  Bundesamt für Kultur (BAK) anExterner Link, wo sie für die Provenienzforschung und Raubkunst zuständig ist, die sowohl NS-Raubkunst als auch im kolonialen Kontext erworbenes Erbe umfasst.

Sie wird auch die Geschäftsstelle einer neuen unabhängigen Kommission zur Beurteilung von Ansprüchen auf strittige Kulturgüter leiten, die noch in diesem Jahr eingerichtet werden soll, sowie eine neue Internetplattform für die Provenienzforschung.

Am Kunstmuseum Bern leitete Doll die erste Museumsabteilung der Schweiz, die sich der Provenienzforschung widmete, eine Aufgabe, die sie “von Anfang bis Ende herausfordernd und spannend” fand, wie sie im Gespräch mit SWI swissinfo.ch sagt.

Schweiz hat fast 80 Jahre lang gewartet

Doll fügte hinzu, dass sie sich “auf den Perspektivenwechsel” in ihrer neuen Funktion freue. “Ich freue mich auch darauf, mein Tätigkeitsfeld auf koloniale Kontexte auszuweiten”, sagte sie.

Ihre Ernennung ist ein Beweis dafür, dass die Schweiz fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen hat, ihre Verantwortung für NS-Raubkunst ernster zu nehmen.

Die neue unabhängige Kommission erfüllt eine 25 Jahre alte Verpflichtung im Rahmen der internationalen, nicht bindenden Washingtoner Prinzipien, “alternative Streitbeilegungsmechanismen zur Lösung von Eigentumsfragen” zu schaffen.

Nikola Doll und Nina Zimmer
Nina Zimmer, Direktorin des Kunstmuseums Bern (rechts), spricht neben Nikola Doll während der Jahresmedienkonferenz des Kunstmuseums Bern, bei der die Gurlitt Ciollection das Hauptthema war. Dezember 2017. Keystone/Peter Klaunzer

Marktzentrum für Raubkunst

Die Schweiz war eines von 44 Ländern, die 1998 den Washingtoner Prinzipien zustimmten. Sie erklärten sich bereit, Museen zu ermutigen, Provenienzforschung zu betreiben, von den Nazis beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren und “gerechte und faire Lösungen” mit den ursprünglichen jüdischen Sammlern und ihren Erbinnen zu suchen. Doch viele Jahre lang unternahm die Schweizer Regierung nicht viel.

Während Österreich, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und die Niederlande vor mehr als 20 Jahren Kommissionen zur Beurteilung von Restitutionsansprüchen eingerichtet haben, mussten die Museen in der Schweiz solche Ansprüche selbst regeln.

Schweizer Beamte argumentierten, dass das Land nie von den Nazis besetzt war und daher kein wichtiger Aufbewahrungsort für geraubte Kunst sei. Doch die Schweiz war vor und während des Kriegs ein wichtiger Umschlagplatz für Kunst aus Deutschland.

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Der Fall Gurlitt brachte neuen Schwung

“Die Entscheidung Berns, sich des Erbes Gurlitts anzunehmen, führte zu einer neuen Diskussion über Raubkunst in der Schweiz”, so Doll. “Das brachte Schwung in diesen Prozess.”

Gurlitt hatte seine Sammlung von seinem Vater geerbt, einem Händler, der für Adolf Hitler arbeitete und zu dessen Ankäufen auch Kunstwerke gehörten, die bei Juden und Jüdinnen beschlagnahmt oder unter Zwang verkauft worden waren.

Die deutschen Zollbehörden beschlagnahmten die Sammlung 2012 in Gurlitts Münchner Wohnung. Als sie 2013 an die Öffentlichkeit gelangte, sorgte der Bestand weltweit für Schlagzeilen.

Blattabzug Porträt Hildebrand Gurlitt
Ein schwer fassbarer Mann: Hildebrand Gurlitt. Koblenz, Bundesarchiv Nachlass Cornelius Gurlitt

Nach seinem Tod im Jahr 2014 zögerte die Stiftung des Kunstmuseums, Gurlitts Nachlass anzunehmen. Sie bezeichnete ihn als “eine grosse Last der Verantwortung”, die “eine Fülle von Fragen heikelster Art” mit sich bringe.

Eine Frage der Rechtsauslegung

Eine dieser Fragen war, wie die Schweizer Museen auf den Umgang Berns mit dem so genannten “Fluchtgut” reagieren würden. Das ist Kunst, die von Juden und Jüdinnen während der Nazizeit verkauft wurde, um ihre Flucht zu finanzieren oder ein neues Leben zu beginnen, nachdem sie ihre Lebensgrundlage und ihre Heimat verloren hatten.

In Deutschland werden solche Kunstverkäufe als “verfolgungsbedingte Verluste” bezeichnet und Antragsteller:innen haben ein Anrecht auf “gerechte und faire Lösungen”. In der Schweiz wurden Ansprüche für Kunst, die unter Zwang verkauft wurde, oft abgelehnt.

“Es bestand die Gefahr, dass Werke in dieser Sammlung, die in Deutschland als geraubt angesehen werden, in der Schweiz nicht als geraubt angesehen werden”, sagte Doll.

Sowohl sie als auch die Direktorin des Kunstmuseums, Nina Zimmer, sind Deutsche. “Wenn also ein Museum in der Schweiz anfängt, Werke anders zu bewerten, kann man das nicht ignorieren.”

Die Frage des “Fluchtguts” kam tatsächlich zur Sprache. Die damalige Kulturbeauftragte der Schweiz, Isabelle Chassot, erklärte, der Begriff werde nur in der Schweiz verwendet und solle vermieden werden. Der offizielle Standpunkt der Schweizer Regierung lautet, dass jeder Fall einzeln geprüft werden muss, um festzustellen, ob ein Verkauf “konfiskatorisch” war.

rückseite eines gemäldes mit notizen
Ein Vermerk des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt auf einem Werk. Die lückenlose Aufklärung der Herkunft ist oft eine schwierige Arbeit. Keystone/Anthony Anex

Das Bührle-Dilemma

Der Fall Gurlitt läutete einen ersten Wandel in der Haltung der Schweiz gegenüber NS-Raubkunst ein und führte zu einer “grösseren politischen Sensibilität für die Notwendigkeit von Provenienzforschung”, so Doll.

Seit 2016 fördert die Regierung die Provenienzforschung: In der ersten Förderrunde wurden 12 Projekte ausgewählt – in der letzten Runde waren es 28, je zur Hälfte für Forschungen im Zusammenhang mit NS-Raubkunst und für archäologische und kolonialzeitliche Erwerbungen. Der Kanton Bern hat dieses Jahr mit der Finanzierung der Provenienzforschung begonnen.

Die zusätzlichen Mittel haben dazu geführt, dass die Zahl der Provenienzforschenden und die Zahl der verfügbaren Stellen gestiegen ist. Die Provenienzforschenden in der Schweiz haben 2020 sogar einen eigenen Verein gegründet.

Doch erst der Aufschrei über die Sammlung von Emil Georg Bührle gab der Regierung den Anstoss, Dolls Stelle und eine neue Kommission zu schaffen. Bührle, ein Industrieller, der Waffen an Nazi-Deutschland verkaufte, ist dafür bekannt, dass er auch Raubkunst erworben hat.

Bührles Sammlung wurde von der von ihm gegründeten Stiftung an das Kunsthaus Zürich ausgeliehen und 2021 im neuen Erweiterungsbau des Museums ausgestellt. Kritiker:innen warfen der Stiftung vor, die Herkunft einiger der ausgestellten Kunstwerke zu beschönigen, und forderten eine Überarbeitung der Ausstellung, um die belastete Geschichte der Sammlung besser widerzuspiegeln. Eine unabhängige Kommission soll diesen Sommer einen Bericht über die Provenienzforschung der Stiftung vorlegen.

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Ein längst überfälliges Mandat

Ende 2021 reichte der sozialdemokratische Nationalrat Jon Pult eine parlamentarische Motion ein, die eine neue unabhängige Kommission forderte.  “Die Schweiz würde damit ihren Beitrag zur Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Geschichte leisten und ihrer Verantwortung im Umgang mit NS-verfolgungsbedingt verlorenem Kulturgut gerecht werden”, sagte er.

Es wird erwartet, dass die Regierung die Mitglieder des Gremiums, zwischen neun und zwölf Personen, noch in diesem Jahr ernennen wird, sagte Doll.

Die Richtlinie sieht vor, dass die Kommission bei Streitigkeiten zwischen Antragsteller:innen und derzeitigen Inhaber:innen unverbindliche Empfehlungen ausspricht und in Einzelfällen externe Expert:innen hinzuziehen kann.

Die Anträge werden dem BAK vorgelegt, das sie der Kommission zur Prüfung vorschlägt. Die Richtlinie besagt, dass jedes Kunstwerk, das sich in der Schweiz befindet oder dort den Besitz gewechselt hat, für eine Prüfung in Frage kommt. Die Kommission ist sowohl für das Erbe aus der Kolonialzeit als auch für Verluste aus der Zeit des Nationalsozialismus zuständig.

Antragsteller:innen können eine Bewertung beantragen, unabhängig davon, ob der derzeitige Inhaber oder die Inhaberin zustimmt. Sofern sie nachweisen können, dass sie Nachforschungen über die Herkunft angestellt und versucht haben, eine Einigung mit dem derzeitigen Inhaber oder der Inhaberin zu erzielen.

Neue Best Practice

Dies bedeutet, dass Schweizer Museen erneut unter Druck geraten könnten, unter Zwang verkaufte Kunst zurückzugeben oder zu entschädigen, je nachdem, wie die neue Kommission die internationalen Vereinbarungen auslegt.

Letzten Monat haben 23 Länder – darunter auch die Schweiz – ein neues Abkommen über “Best Practices”Externer Link unterzeichnet. Nach diesen Leitlinien, die Unklarheiten in den Washingtoner Grundsätzen klären sollen, kann jeder Verkauf von Kunst durch eine verfolgte Person zwischen 1933 und 1945 “als unfreiwillige Übertragung von Eigentum angesehen werden”.

mehrere Personen stehen um ein Bild herum
Die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters (r) gibt das im Gurlitt-Nachlass gefundene Bild “Portrait de jeune femme assise” von Thomas Couture an die Nachkommen des rechtmässigen Besitzers zurück. Keystone/DPA-Zentralbild/Britta Pedersen

Die Entscheidung der Schweiz, eine unabhängige Kommission einzurichten, wurde international begrüsst. In einem Bericht vom März über die Fortschritte der Staaten bei der Umsetzung der Washingtoner Prinzipien stufen die World Jewish Restitution Organization und die Jewish Claims Conference die Schweiz in die Kategorie der Länder ein, die “substanzielle Fortschritte” gemacht haben. Sieben Ländern wurden “bedeutende Fortschritte” attestiert.

Nach der Einführung eines Antragsverfahrens wird die Schweiz “wahrscheinlich in naher Zukunft zu den Ländern an der Spitze der Skala gehören”, so der Bericht.

Edited by Virginie Mangin and Eduardo Simantob

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