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Die Holocaust-Travestie

In seinem neusten Buch schildert Daniel Ganzfried den Verlauf seiner Recherchen im Fall Wilkomirski. swissinfo.ch

Der Zürcher Schriftsteller Daniel Ganzfried schildert in seinem neusten Werk, wie er dem falschen Holocaust-Überlebenden Binjamin Wilkomirski auf die Spur kam.

1995 erschien im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp das Buch «Bruchstücke, aus einer Kindheit 1939-1945». Darin schildert ein angeblicher KZ-Überlebender mit Namen Binjamin Wilkomirski seine Kindheit in den Konzentrationslagern Auschwitz und Majdanek.

Die mit zahlreichen grausamen Szenen ausgeschmückte Schilderung mauserte sich in Kürze zu einem Klassiker der Shoa-Literatur. Der im Kanton Thurgau wohnhafte Autor Wilkomirski geriet zum gefragten Holocaust-Sachverständigen, zelebrierte sich in öffentlichen Auftritten als der Hölle entronnenes Opfer, gab allenthalben Interviews und liess Filmbeiträge über sich drehen.

Die Aufdeckung einer Legende

Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 1998 entlarvte der Zürcher Schriftsteller Daniel Ganzfried die «Bruchstücke» als skandalöse Fälschung. In einem in der Wochenzeitung «Weltwoche» veröffentlichten Artikel wies Ganzfried nach, dass Binjamin Wilkomirski in der Schweiz geboren wurde, mit richtigem Namen Bruno Doessekker heisst, als Adoptivkind am Zürichberg aufgewachsen war und damit kein Opfer des Holocaust gewesen sein konnte: «Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker … kennt Auschwitz und Majdanek nur als Tourist.»

Anfang März dieses Jahres wurde die Herkunft des vermeintlichen Holocaust-Übelebenden mit wissenschaftlichen Methoden einwandfrei geklärt: Eine von der Zürcher Bezirksanwaltschaft angeordnete DNA-Analyse beweist, dass Bruno Doessekkers leiblicher Vater ein heute 81-jähriger Schweizer ist, der sich vor der Geburt des Kindes am 12. Februar 1941 von seiner schwangeren Freundin getrennt hatte.

Zeit war reif

Seit einigen Wochen liegt nun das Buch «…alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie» vor. Darin erzählt Daniel Ganzfried die Geschichte seiner Enthüllung – und schildert das unheilvolle Zusammenspiel von Germanistik, Verlagswesen, literarischer Agentur, Psychiatrie und Literaturkritik, welches die Wilkomirski-Lüge überhaupt ermöglichte.

Die Lüge sei auf einen fruchtbaren Boden gefallen, weil «die Zeit reif war für diesen Kitsch», sagte Ganzfried gegenüber swissinfo: Im Zuge der Debatte der Schweiz mit den USA um die nachrichtenlosen Vermögen sei generell «viel Blödsinn» erzählt worden. Der Holocaust sei «zum Kampagnen-Thema verkommen», und in diesem Kontext habe sich die «Figur Wilkomirski als illustre, gut einträgliche Werbefigur» erwiesen.

Sowohl beim beteiligten Verlag als auch bei Bruno Doessekker selbst fehle bis heute der Wille, «sich mit dem, was geschehen ist, offen auseinander zu setzen», sagt Ganzfried. «Für mich bleibt als wichtigste Erfahrung aus der ‹Affäre Wilkomirski› ein bitteres Lachen zurück – über eine Travestie-Nummer auf allertiefstem Niveau. Es ist bitter, dass man beim Thema Holocaust dermassen wenig Ernsthaftigkeit an den Tag legt.»

Holocaust erträgt keine Zweideutigkeit

Daniel Ganzfried war während seiner Recherchen persönlichen Beleidigungen und Druckversuchen ausgesetzt. Nach der Veröffentlichung von «…alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie» sah sich der Autor überdies dem Vorwurf ausgesetzt, es selber mit der Wahrheit nicht immer genau zu nehmen. So verwahrt sich etwa der Filmer Eric Bergkraut gegen Ganzfrieds Behauptung, mit einem filmischen Essay über Wilkomirski «wider besseres Wissen» gehandelt zu haben. In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom vergangenen 4. April schreibt Bergkraut: «Ich weiss nichts von einem … Komplott und bin selber während der Arbeit immer davon ausgegangen, dass die Wilkomirski-Geschichte stimmt.»

Ganzfried erntete für seine beharrlichen Recherchen aber auch viel Anerkennung – vor allem in jenen Kreisen, die fürchten, das Wilkomirski-Machwerk sei Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Leugner. Der Basler Philosoph Hans Saner schrieb in einem offenen Brief an Ganzfried: «Binjamin Wilkomirski ist als Wahrheitszeuge in der Leidensgeschichte der Shoa-Opfer aufgetreten. Diese Zeugenschaft erträgt keine Zweideutigkeit. … Und deshalb bin ich Ihnen für Ihren Mut dankbar.»

Felix Münger

Daniel Ganzfried, …alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals, Jüdische Verlagsanstalt, Berlin 2002.

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