Die mehrsprachige Schweiz
Zwischen 1798 und 1815 treten neue Kantone mit neuen Sprachen der Eidgenossenschaft bei.
Mit der Helvetischen Republik und der Mediation wird die Schweiz offiziell ein mehrsprachiges Land: Die lateinischen Sprachen werden Teil der schweizerischen Identität, bleiben jedoch in der Minderheit.
Die Alte Eidgenossenschaft der 13 Kantone war ein ausschliesslich deutschsprachiges Gebilde. Sowohl den grossen Städten Zürich, Bern und Basel als auch in den Bergkantone Uri, Schwyz und Glarus wurde Deutschschweizer Dialekt gesprochen.
Das heisst nicht, dass es überhaupt keine französisch- oder italienischsprachigen Gebiete in der Eidgenossenschaft gab. Aber es handelte sich dabei um Untertanengebiete, wie zum Beispiel die Freiburger Landschaft, die der Stadt Freiburg unterstellt war, oder um Gebiete wie die Waadt, die im 15. Jahrhundert von Bern erobert worden war.
Der heutige Kanton Tessin war aufgeteilt in Untertanengebiete von verschiedenen Kantonen nördlich der Alpen. Ähnlich auch die Situation zugewandten im Wallis: Die deutschsprachigen Gemeinden des oberen Rhonetals beherrschten die frankophonen Gemeinden im unteren Talgebiet.
Das französischsprachige Genf und das mehrsprachige Graubünden gehörten ebenfalls nicht zur Eidgenossenschaft.
Friedliches Zusammenleben
Im Gebiet der heutigen Schweiz war seit jeher ein Sprachengemisch zu finden. Die Sprachgrenze war nie identisch mit der politischen Grenze. Zudem stammt das Konzept der sprachlich nationalen Einheit aus dem 18. Jahrhundert.
Neben der Eidgenossenschaft gab es auch andere mehrsprachige Staaten in Europa: Das klassische Beispiel ist das Habsburger-Reich. Darin lebten ungarisch-, slowakisch-, deutsch-, aber auch italienisch- und rumänischsprachige Reichsteile friedlich nebeneinander.
Die Schweizer Expansion im 15. Jahrhundert über die Alpen – die Eroberung des heutigen Tessins – war ein politischer Akt zur Kontrolle der Passübergänge. Allfällige Skrupel über die Legitimität der Machtausübung über die lombardische Bevölkerung hatten die Eroberer nicht.
In der Alten Eidgenossenschaft war die Sprachfrage kein Konfliktgrund. «Es gab, trotz der Herrschafts-Beziehungen, einen grossen Respekt gegenüber Sprache und Kultur der anderen», sagt der Historiker Norbert Furrer gegenüber swissinfo. Furrer ist Autor einer Studie über das sprachliche Verhalten in den Bundesgebieten während mehrerer Jahrhunderte.
Das Sprechen einer Fremdsprache war für Aristokraten und Würdenträger zudem eine Prestigesache. Die Elite setzte sich intensiv mit den Idealen der Aufklärung auseinander. Aber auch Geschäftsleute und sogar die des Lesens und Schreibens unkundigen Tagelöhner, die ausserhalb ihres Dorfes Arbeit suchten, mussten andere Sprachen sprechen.
In den Dörfern wurde nur Patois und Dialekt gesprochen. Wer sein Dorf verlassen wollte, musste sich anpassen.
Der neue rationale Staat
1798 führte die Helvetische Republik die Gleichheit aller Bürger ein. Neue soziale Schichten kamen somit zu politischen Rechten und konnten sich im nationalen Parlament vertreten lassen, auch wenn sie nicht Deutsch sprachen.
Die neuen Gesetze mussten von allen Bürgern verstanden werden. Deshalb wurden die Sprachen der Untertanen zu offiziellen Sprachen erhoben. Die Behörden richteten entsprechende Ämter ein.
So entstand ein neues Protokoll für das Zusammenleben. Mit der napoleonischen Mediationsakte von 1803 wurde die Mehrsprachigkeit nochmals bestätigt.
«Der Umstand, dass Napoleon die Mediationsakte verfasst hatte, begünstigte sicherlich die frankophone Minderheit», so Denis Tappy, Professor für Geschichte und Recht an der Universität Lausanne. Er bestätigt, dass die Originalversion der Akte in französischer Sprache geschrieben war. Es folgten dann Versionen in italienischer und deutscher Sprache.
Veränderte Beziehungen
Nach und nach kühlten sich die Beziehungen zwischen den Sprachregionen ab. Ab 1848 häuften sich die Konflikte. Die Wahl der Hauptstadt, die Schaffung einer nationalen Universität oder die Vertretung in den Entscheidungsorganen führten zu harten Debatten, wenn nicht gar zu Streit zwischen den Sprachgruppen.
Mit neuen Klauseln zu Vertretung, Proportionalität und Ausgleich wurde versucht, ein Gleichgewicht zwischen den Regionen zu garantieren. Allerdings sei diese Methode, die Probleme zu lösen wie «der Aushub eines Grabens» gewesen, schreibt der Fachjournalist Christoph Büchi.
Die Verfassung garantierte zwar das Weiterbestehen der Sprachgebiete, doch um ein besseres gegenseitiges Verständnis habe man sich nicht gekümmert. Und der Unterricht in den Schulen habe nicht unbedingt die erhofften Resultate gebracht.
Heisses Thema
Die Deutschschweizer definieren sich weiterhin durch ihren Dialekt. Die Romands, denen bereits das Erlernen der hochdeutschen Sprache schwer fällt, fühlen sich ausgeschlossen, weil sie die verschiedenen lokalen Dialekte in der Deutschschweiz nicht verstehen.
Dieser vor allem seit den 1950er Jahren entstandene Graben hat einen Namen: «Röstigraben». Rösti ist ein typisches Deutschschweizer Gericht.
Die Tessiner – der Kanton ist zu klein, um autonom zu sein – passen sich weiterhin an und lernen jene Landessprachen, die sie brauchen, um sich in der Schweiz zu bewegen. Die rätoromanische Minderheit, die heute nur noch wenige zehntausend Menschen zählt, ist so gut wie zweisprachig.
Dass das Sprachproblem in der Schweiz nichts an Brisanz verloren hat, zeigt die jüngste Debatte über die Verfassungsreform im Kanton Freiburg. Deutschsprachige und Französischsprachige konnten keinen gemeinsamen Nenner für einen neuen Sprachartikel finden.
Auf nationaler Ebene ist das neue Bundesgesetz über die Landessprachen immer noch blockiert. Der Leidensweg dieses Gesetzes begann1986.
Trotz allem: Die Schweiz ist immer noch ein mehrsprachiges Land. Aber in 200 Jahren haben sich die Dinge verändert. Der Solothurner Schriftsteller Peter Bichsel ist indessen zuversichtlich: «Die Schweiz muss nicht sein, aber sie kann. Wenn sie will.»
swissinfo, Daniele Papacella
Im 17. Jahrhundert war die Schweiz mehrsprachig. Wer dem eigenen Mikrokosmos entfliehen wollte (oder musste), hatte keine andere Wahl, als Fremdsprachen zu lernen.
Die Eliten der alten Eidgenossenschaft sprachen Latein und vor allem Französisch. Die Verwaltungssprache war aber Deutsch. Mit der 1798 verwirklichten Rechtsgleichheit und dem Eintritt neuer Kantone in die Eidgenossenschaft – darunter Waadt, Graubünden, Tessin und 1815 Genf, Wallis und Neuenburg – wurde das lateinische Element gestärkt.
Die Institutionen passten sich den Veränderungen an. Französisch und Italienisch wurden dem Deutsch ebenbürtig. 1848 wurden alle drei Sprachen als nationale Landessprachen anerkannt. 1938 wurde Rätoromanisch zur vierten Landessprache erklärt.
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