Die provokative Sicht auf den Raum Schweiz
Die Schweiz ist urban, weder ländlich konzipiert, noch eine einzige Grosstadt. Die These des ETH-Studio Basel stellt planerische und andere Mythen auf den Kopf.
Das «städtebauliche Portrait» versteht sich als akribische Momentaufnahme eines Landes mit einem einzigen nationalen urbanen Projekt namens Autobahn.
«Auch heute werden die Städte von kleinen, aber mächtigen Gemeinden bedroht, die sie umzingeln, ihre territoriale Ausdehnung begrenzen, sie geradezu aushungern», diagnostiziert der Basler Architekt Jacques Herzog in der Publikation «Die Schweiz – Ein städtebauliches Portrait».
Die Gemeindeautonomie ist in der Verfassung verankert. Die 2750 Gemeinden – ob abgelegene Mikrogemeinde oder Zürich – haben einen eigenen Zonenplan. Und alle wollen sie nur das Eine: wachsen und sich – mit Hilfe von Subventionen – in dieselbe Richtung entwickeln.
Das ländliche Universum
Gemeinden verfügen über ein ganzes Paket an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hoheiten: Bauplanung, Strassen, Steuern, Schulen.
Die Gemeindeautonomie ist für die Topographie der Schweiz folgenreicher als die Souveränität der Kantone. Sie verhindert die Entwicklung von wirklichen Metropolen, hat aber auch zu einer bis in die Alpentäler reichenden Verstädterung geführt.
Der Architekt Markus Meili glaubt, dass das zu einem als «fast archetypisch schweizerischen» räumlichen Gefühl führt. «Damit meine ich die Ein-, Ab- und Ausgrenzung, die Liebe zum Universum ‹en miniature›, die in Zäunen, bei Strassenmarkierungen, aber auch im territorialen Verhalten von Familien, Vereinen und selbst in Volksfesten zum Ausdruck kommt.»
In Zürich ortet Meili weltstädtische Institutionen, aber auch Misstrauen gegen Städtebau. «Die Zürcher geniessen ihre Trend-Bars am liebsten in einer Art vergrössertem Dorf.»
Die Alpen – grossflächige Brachen
Jedes Jahr wird eine Fläche in der Grösse des Brienzersees zubetoniert. Die föderalistische Austarierung hat zu dem geführt, was Fachleute als «Siedlungsbrei» bezeichnen.
Das «städtebauliche Portrait» teilt das Land in fünf urbane Zonen-Typen auf und nimmt dabei bewusst keine Rücksicht auf Gemeinde- Kantons-und Landesgrenzen.
Die Alpen, diese identitätsstiftenden Kristallisationspunkte, werden zu grossflächigen Brachen degradiert, zum «unbestellten Acker». Die Grossregionen Bern, Luzern und das Tessin sind «Städtenetzwerke», der Gros-de Vaud, das Appenzellerland und das Gebiet rund um den Napf sind «stille Zonen», St. Moritz und Zermatt «alpine Ressorts».
Bern und das Tessin: Provinz
Die Autoren plädieren für eine differenzierte Entwicklung, für eine Schärfung der Zonen-Typologie und damit für eine Abkehr von der praktizierten Landesplanung.
Die «stillen Zonen» mit ihren zu «Siedlungskernen ausgewachsenen Bauerndörfern» bezeichnen sie als «städtische Landschaftsparks». Und als solche sollen sie sich entwickeln, statt sich noch weiter zu verstädtern.
Die Landesplanung hat fünf Grosstädte ausgeschieden und sie politisch korrekt und verträglich auf die Regionen im Land verteilt: Zürich, Basel, Genf, Bern und das Tessin.
Das «Portrait» ortet hingegen lediglich drei «Global Cities»: Zürich, die Genfersee-Region mit Genf und Lausanne und die tripolare Agglomeration Basel-Freiburg-Mulhouse.
Jahrzehnte für 5 Kilometer Schienen
In Zürich soll der Hardwald, der künftig von der Glattal-Stadt umgeben sein wird, gestärkt werden. Das bewaldete Naherholungsgebiet nördlich von Basel soll überflutet und damit zum Erholungspark für die trinationale Grossstadt werden.
Auch Genf stösst überall an die Landesgrenze und muss im Verbund mit Frankreich planen. Das geschieht erst in Ansätzen. So gibt es zwischen dem Hauptbahnhof und dem französischen Annemasse immer noch keine Bahnverbindung. Immerhin: Nach 2010 soll die gerade mal fünf Kilometer lange S-Bahn gebaut sein.
Verweigerung der Urbanität
Im Gegensatz zu andern Theorien zeichnen die Autoren nicht ein Bild der Schweiz als eine einzige Grosstadt, sondern ein Land mit verschiedenen urbanen Zonen.
Sie bezeichnen das Verweigern von Urbanität als typisch schweizerisch und monieren die ländlichen Seelen der Schweizer, die tagsüber globale Geldflüsse kontrollieren und am Abend an der Gemeindeversammlung lokale Interessenpolitik betreiben. Deshalb sei nie ein «Modell Schweiz» entworfen worden. Einzige Ausnahme: Das Autobahnnetz, das «einzige nationale urbane Projekt».
swissinfo, Andreas Keiser
Von 1999 – 2005 haben vier Schweizer Architekten und ein Geograph ein neues städtebauliches Portrait der Schweiz geschaffen.
Die detaillierte Bestandes-Aufnahme wurde von Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron und dem Geographen Christian Schmid erstellt.
Die Arbeit entstand im ETH-Studio Basel, welches seit 1999 existiert.
Beteiligt waren auch Hunderte von Architektur-Studenten.
Die Publikation gliedert sich in drei Bände, umfasst 1000 Seiten und eine Karte der in fünf urbane Zonen-Typen unterteilten Schweiz.
«Die Schweiz – Ein städtebauliches Portrait» ist im Birkhäuser Verlag für Architektur erschienen.
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