Die Schweiz als uneinnehmbare Festung
Am Samstag fand am Filmfestival von Locarno die Premiere des Schweizer Dokumentarfilms "La forteresse" statt. Ein Film über den Mikrokosmos des Empfangszentrums für Asylbewerber in Vallorbe, wo Schicksale und Schweizer Bürokratie aufeinandertreffen.
Betonmauern, Gitterzäune, Stacheldraht, Videokameras und verschlossene Türen. In den kahlen Gängen hallen die Schritte und der metallene Klang der Schlüssel von Securitas-Wächtern wider.
Wer von draussen in das Gebäude kommt, wird hinter einem Vorhang von uniformierten Angestellten mit weissen Handschuhen durchsucht.
Das Empfangs- und Verfahrenszentrum für Asylbewerber in Vallorbe gleicht einem Gefängnis. In diesem abgelegenen Gebäude inmitten der Waadtländer Juralandschaft, das 1896 als Luxushotel gebaut und 1954 in eine Militärkaserne umfunktioniert wurde, hoffen heute Männer, Frauen und Kinder darauf, dass die Schweiz sie aufnimmt.
Klare Regeln
Im Dokumentarfilm «La forteresse» (Die Festung) des Schweizers Fernand Melgar ist – nachdem er beim Bundesamt für Migration sechs Monate um die Drehbewilligung gekämpft hatte – in diese von der Öffentlichkeit abgeschlossene Welt vorgedrungen, in der rund 200 Menschen aus Kolumbien, Kosovo, Somalia, Tongo und Irak Schlaf- und Essräume teilen und in der ein ganzes Heer von zerrissenen Familien auf eine bessere Zukunft hofft. Eine Welt, in der Schweizer Bürokratie und Schicksale aufeinandertreffen.
Das Chaos der Welt, dem die Flüchtlinge entflohen sind, kontrastiert mit den klaren Regeln im Zentrum: Ausgang von 8 bis 12 Uhr und von 13 bis 17 Uhr 30. Sackgeld gibt es 3 Franken pro Tag. Abwechslung bieten den wartenden Flüchtlingen etwa das Fussballspiel auf dem betonierten Hof oder Forsteinsätze im Wald. Manche versuchen ihren Kummer auch im Alkohol zu ertränken.
Schwierige Prüfung
Angekommen in der Schweiz, glauben sich viele in Sicherheit: Sie ahnen nicht, dass ihnen noch eine schwierige Prüfung bevorsteht: Das neue Schweizer Asylverfahren, das 2006 vom Schweizer Stimmvolk klar angenommen wurde und zu den strengsten in Europa zählt.
Durch den populistischen Diskurs der Schweizerischen Volkspartei sei die Angst vor Asylbewerbern geschürt worden, sagt der Regisseur Fernand Melgar gegenüber swissinfo. «Ich wollte mit dem Film ein menschliches Bild der Asylbewerber zeichnen und zeigen, dass es sich dabei um Menschen handelt, die leiden», so der Regisseur mit spanischen Wurzeln, der als Kind selbst heimlich in die Schweiz kam.
60 Tage
Der Film, der weder Kommentare noch Interviews enthält, vermittelt eindrücklich die Stimmung im Zentrum, die zwischen Lebensfreude und Hoffnungslosigkeit wechselt. Die Einstellungen sind nüchtern, wirken häufig wie Bilder.
Die Dreharbeiten für «La forteresse» dauerten von Anfang Dezember 2007 bis Mitte Februar 2008 – 60 Tage, die neue Maximaldauer für ein Asylverfahren. Aufgrund von zwei Einvernahmen und einer Reihe von Expertisen entscheiden die Beamten in den Empfangszentren, ob ein Asylantrag gerechtfertigt ist oder nicht.
Wie ein Echo ertönen in den Büros des Zentrums immer wieder dieselben Fragen: Weshalb haben Sie ihr Land verlassen? Weshalb können Sie nicht in Ihr Land zurückkehren? Immer wieder wird das Tippen des protokollierenden Angestellten von Weinkrämpfen übertönt. «Der Antragssteller weint», wird dann etwa im Einvernahmeprotokoll notiert.
Die Flüchtlinge werden von schmerzhaften Erlebnissen eingeholt. Viele von ihnen sind traumatisiert, haben im Krieg oder durch autoritäre Regimes ihre Kinder oder Eltern verloren, wurden gefoltert oder verfolgt und haben eine lange Flucht hinter sich.
Rechtsstaat noch gewährleistet?
So erzählt etwa ein Somalier von seinem über einen Monat dauernden Marsch mit angeschossenem Bein durch die Wüste und der anschliessenden Fahrt über das Meer auf einem kleinen Boot, in dem er mit 50 weiteren Flüchtlingen sass. Aus Not hätten sie gar die Leiche eines unterwegs gestorbenen Kindes gegessen.
Sie traue der Geschichte nicht, die der Flüchtling aus Somalia erzähle, sagt eine Angestellte. Es höre sich an, als würde er sie nacherzählen. Es sei unmöglich, 30 bis 40 Tage mit einem verletzten Bein durch die Wüste zu wandern.
Sind solche Entscheide nicht willkürlich, fragt man sich. Ist der Rechtsstaat noch gewährleistet? «Diese Frage muss das Publikum beantworten», sagt Melgar.
Begrenzter Handlungsspielraum
Das Personal im Film versucht, dem Alltag im Zentrum eine menschliche Note zu geben. Die Szenen mit dem Chef des Zentrums, der einem weinenden Asylbewerber mit Taschentüchern nachrennt, Babys im Arm wiegt und spontan seine Sitzung für einen afrikanischen Gottesdienst absagt, wirken jedoch teilweise etwas konstruiert.
Die Beamten werden tagtäglich mit dem Elend und der Ungerechtigkeit der Welt konfrontiert. Ihr Handlungsspielraum ist begrenzt: Sie müssen eines der strengsten Asylgesetze in Europa anwenden. Das Zentrum in Vallorbe ist eine «Festung», ein abstruses Nebenprodukt des Nord-Süd-Gefälles. Die Schweiz, die Wiege der Genfer Konventionen, ist eine uneinnehmbare Festung geworden.
Die Zahlen sprechen für sich: Nur zehn Prozent der behandelten Fälle wird das Asylrecht zugesprochen. Die anderen erhalten bestenfalls eine provisorische Bewilligung, meistens müssen sie jedoch das Land innerhalb von 24 Stunden verlassen.
swissinfo, Corinne Buchser, Locarno
Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf war am Samstag bei der Premiere des Films «La Forteresse» dabei, der am Filmfestival Locarno in der Sparte «Cinéastes du présent» läuft. Sie sprach von einer «realistischen» Darstellung.
Das Werk von Fernand Melgar zeige eindrücklich, wie schwer es sei, im Asylverfahren jedem einzelnen Schicksal gerecht zu werden.
Im September 2006 wurde das neue Einwanderungs- und Asylgesetz von über zwei Dritteln der Stimmbevölkerung angenommen.
Danach werden Asylbewerber ohne gültige Ausweispapiere, die für das Fehlen keine glaubwürdige Erklärung liefern können, innerhalb 48 Stunden des Landes verwiesen.
Abgewiesene Asylsuchende, deren Rekursmöglichkeiten ausgeschöpft sind, werden von den Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen und erhalten nur Nothilfe.
Abgewiesene Asylsuchende, welche das Land nicht verlassen, können mit bis zu 2 Jahren Haft bestraft werden.
2007 wurden in der Schweiz von den insgesamt 10’390 Anträgen 1561 positiv beantwortet.
Fernand Melgar wurde 1961 in Tanger in Marokko geboren. Seine Eltern stammen aus Spanien.
1962 emigrierte sein Vater in die Schweiz, wo er als Saisonnier arbeitete. Ein Jahr später liess er heimlich seine Familie nachkommen. Aus Angst, ausgeschafft zu werden, hielten sich Fernand Melgar und seine Schwester in der Wohnung auf, bis die Eltern eine Aufenthaltsbewilligung erhielten.
Seit 1985 gehört Melgar der unabhängigen Produktionsfirma Climage an.
Sein letzter Dok-Film «EXIT- das Recht zu Sterben» erhielt neben dem Schweizer Filmpreis 2006 verschiedene internationale Auszeichnungen.
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