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Die Schweiz errichtete ein Bollwerk gegen Roma

Katharina Florian, Zigeunerin, Karte aus dem Zigeunerregister der Kantonspolizei Bern.
"Katharina Florian, Zigeunerin", Karte aus dem" Zigeunerregister" der Kantonspolizei Bern. Privatarchiv Thomas Huonker

Die Geschichte der Sinti und Roma in der Schweiz ist eine der Abriegelung und Einsperrung – seit ihren Anfängen im Mittelalter.

«Die Menschen müssen mehr über uns wissen.» Die Forderung von Hasan und Hysen ist klar. Die beiden Brüder, achtzehn Jahre alt und in der Schweiz geboren, sind Roma. Und einige der wenigen, die offen zu ihrer Herkunft stehen.

«Wenn wir mit Kollegen zusammen sind, kann es geschehen, dass sie sagen: ‘Ich bin Serbe’ oder ‘Ich bin aus dem Kosovo’. Erst wenn wir sagen, dass wir Roma sind, sagen sie: ‘Ich bin es auch’.» So erzählen es die Zwillinge im kürzlich erschienenen Lehrmittel Jenische – Sinti – Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz.

Die Zwillinge Hasan und Hysen
Roma in der Schweiz: Die Zwillinge Hasan und Hysen. Ayse Yavas

In der Schweiz leben zwischen 50’000 und 80’000 Roma. Genaue Zahlen gibt es nicht. Zu gross ist die Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung. Die meisten schweigen sich lieber über ihre Herkunft aus. Bemerken tut das kaum jemand.

Zu stark ist der Schweizer Blick geprägt von den jahrhundertealten Stereotypen und Vorurteilen, die mit Roma oder «Zigeuner:innen» verbunden werden. Die Lebensrealität der Roma, die heute in der Schweiz leben, hat damit nichts zu tun.

Roma
Roma ist ein Oberbegriff für verschiedene Volksgruppen in Europa, die alle Varianten des Romanes sprechen. Nur 1% der ca. acht bis zwölf Millionen Roma reist zeitweise im Wohnwagen umher. Die in der Schweiz lebenden Roma pflegen keine fahrende Lebensweise. Es gibt einige Roma-Gruppen aus anderen europäischen Staaten, die die Schweiz von Frühling bis Herbst bereisen.

Sinti
Die Gruppe der Sinti ist aus den Roma hervorgegangen. Sinti betrachten sich heute jedoch oft als eigenständige Minderheit. In der Schweiz leben mehrere hundert Sinti, die seit der Zwischenkriegszeit hier beheimatet sind.

Jenische
In der Schweiz leben zwischen 30’000 und 35’000 Jenische. Davon sind 2’000 bis 3’000 in den Sommermonaten im Wohnwagen unterwegs. Sie sprechen die jenische Sprache und sind nicht mit den Roma verwandt.

«Zigeuner:innen»
«Zigeuner:innen» ist eine abwertende Fremdbezeichnung. Während Jahrhunderten wurden in der Schweiz Roma und Sinti in erster Linie so bezeichnet, Einheimische wie die Jenischen eher als «Vaganten». Die Abgrenzung war jedoch nie trennscharf. So wurde der Begriff «Zigeuner:innen» möglichst offen gehalten, sodass unter diesen Begriff auch andere unerwünschte Bevölkerungsgruppen subsumiert werden konnten.

Antiziganismus, also rassistische Vorurteile gegenüber Roma, Sinti, Jenischen und Fahrenden, blickt in der Schweiz auf eine lange Geschichte zurück. Denn die Geschichte der Roma in der Schweiz war bis in die neueste Zeit vor allem eine Geschichte der Ausgrenzung, Vertreibung und Verfolgung.

Von Anfang an verfolgt

Die ersten Roma erreichten die Schweiz vor 600 Jahren. Der Kirche galten sie trotz ihrer christlichen Religion als «Heiden», die Zünfte sahen in ihnen eine Konkurrenz und die Bevölkerung in erster Linie unerwünschte Fremde. An der eidgenössischen Tagsatzung von 1471 wurde eine Ausweisung aller «Zigeuner» beschlossen, 1574 nannte man gar die «Ausrottung der Heiden und Zigeuner» als Ziel.

Mit der Begründung, dass die «Zigeuner» zu Diebstahl, Hexerei und Spionage neigen würden, wurde ihnen in den folgenden Jahrhunderten der Aufenthalt in verschiedenen Kantonen verboten. In manchen wurden sie durch organisierte Treibjagden vertrieben, in anderen, wie dem Kanton Zürich, drohte ihnen sogar die Todesstrafe.

Holzschnitt aus der Schweizerchronik von Johannes Stumpf, 1548
Ein Holzschnitt von 1548 zeigt zum ersten Mal die «Ankunft der Zigyner» in der Schweiz. CC0 1.0 / Zentralbibliothek Zürich

Als um 1800 der moderne Polizeiapparat entstand, wurde das Kontrollnetz enger. Die eidgenössischen Orte führten immer genauere Listen über die Verfolgten, die sie als «Gauner» oder «Gesindel» einordneten. Nun galt es als Aufgabe der Polizei, die «fremden Landstreicher», «Zigeuner» und Wandergewerbetreibenden flächendeckend zu vertreiben.

Eingebürgert – oder zur Auswanderung gedrängt

Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates 1848 markierte eine Zäsur im Umgang mit der nichtsesshaften Bevölkerung. Für den jungen Staat stellten Bürger:innen ohne Heimatgemeinde ein Problem dar, weshalb 1850 das «Heimatlosengesetz» erlassen wurde. «Zigeuner:innen» wurden nun regelmässig zur Abklärung ihrer Identität in Haft genommen. Wurden sie als Einheimische anerkannt, erhielten sie das Schweizer Bürgerrecht. Andernfalls wurden sie des Landes verwiesen oder zur Auswanderung nach Amerika gedrängt.

Zwischen 1848 und 1888 war es für Roma erstmals möglich, legal in die Schweiz einzureisen. In der Zeit nach der Aufhebung der Sklaverei 1856 in Rumänien kamen viele ehemals versklavte Roma nach Mittel- und Westeuropa – auch in die Schweiz, auch wenn sie nie lange bleiben durften.

Schon bald wandten sich die Kantone der aus ihrer Sicht problematischen Einreise von «ausländischen Zigeunern» zu. Ab 1877 verhängten einige Grenzkantone eigenhändig Einreisesperren für «Zigeuner» und «Tierführer» – auch wenn diese gültige Papiere besassen. 1887 schlossen sich auch die restlichen Grenzkantone dieser Praxis an. 1906 verhängte der Bund ein «allgemeines Einreiseverbot für Zigeunerbanden». Damit war die Grenze für Roma und Sinti ohne Schweizerpass praktisch geschlossen.

Wer dennoch in der Schweiz aufgegriffen wurden, wurden in Anstalten interniert, dort kriminalpolizeilich registriert und danach zwangsausgewiesen. Man folgte dabei den Theorien des Bundesberner Justizbeamten Eduard Leupold, der behauptete, «Zigeuner» seien durch ihre blosse Existenz und Lebensweise gefährliche Staatsfeinde «nicht nur theoretisch, wie viele Bekenner anarchistischer Theorien, sondern täglich mit der Tat». 

Carl Durheims Heimatlosenporträts: Lithografien
Carl Durheims erfasste Mitte des 19. Jahrhundert im Auftrag der Eidgeossenschaft systematisch so genannte «Heimatlose» – seine Lithografien wurden auch für Fahndungen verwendet. CC0 1.0

Unter seiner Leitung errichtete das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement 1911 eine zentrale «Zigeunerregistratur» mit den erkennungsdienstlichen Daten aller aufgegriffenen Roma und Sinti. Später trat die Schweiz der 1923 in Wien gegründeten Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission bei.

Diese sammelte alle kriminalpolizeilichen Daten in einer internationalen «Zigeunerkartei» – die im Dritten Reich grundlegende Daten für die Planung und Durchführung des Völkermords an Roma, Sinti und Jenischen lieferte.

Trotz der akuten Bedrohungslage wurden die restriktiven Einreisebestimmungen von der Schweiz auch während des Zweiten Weltkriegs aufrechterhalten. Roma, Sinti und Jenische wurden nicht als politisch Verfolgte anerkannt.  Damit blieb ihnen die lebensrettende Flucht in die Schweiz verwehrt.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu keinem Umdenken. 1951 stellte die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements fest, «dass in der Schweiz keine Zigeuner im eigentlichen Sinn mehr leben».

Die Einreisesperre wurde als zielführendes Mittel angesehen und bis 1972 beibehalten. Diskriminierungen sind allerdings noch in den 1980er-Jahren dokumentiert. So erhielten Roma und Sinti im Vergleich zu «normalen» Ausländer:innenn nur Visa für einmalige Einreisen. Und Zollorgane versuchten weiterhin, sie durch Schikane von der Schweiz fernzuhalten.

«Gastarbeiter» und Kriegsflüchtlinge

Trotz restriktiver Einreisebestimmungen schafften es ab den 1960er-Jahren Roma aus dem damaligen Jugoslawien die schweizerische Abweisungspolitik zu umgehen. Sie kamen als «Gastarbeiter» in die Schweiz und vermieden es, sich als Roma zu erkennen zu geben. Einer der wenigen, der sich offen als Rom bekannte, war der slowakisch-schweizerische Arzt Ján Cibuľa, der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in die Schweiz geflüchtet war. 

Ján Cibuľa
Ján Cibuľa, früher Roma-Aktivist in der Schweiz der 1970er-Jahre. CC 4.0 / Personal archive of Deméter Cibuľa

Er kämpfte gegen die rechtliche und politische Diskriminierung von Roma. 1978 wurde er zum Präsidenten des in Genf stattfindenden Internationalen Romani-Kongresses gewählt, im Verlaufe dessen auch die «Internationale Romani Union» gegründet wurde. Trotz all ihrer Ausgrenzungsbemühungen wurde damit paradoxerweise gerade die Schweiz zu einem Ort internationaler Roma-Emanzipationsbestrebungen.

Im Verlaufe der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren kamen weitere Roma als Flüchtlinge in die Schweiz. Da Roma im Kosovo ab 1998 als besonders gefährdet galten, konnte es nun sogar erstmals in der Schweizer Geschichte ein Vorteil sein, sich bei der Einreise als Rom:nja zu identifizieren, um schneller Asyl zu erhalten.

Keine Aufarbeitung

In den letzten dreissig Jahren hat sich die Situation von Roma in der Schweiz verbessert. So sitzt nun erstmals ein Vertreter der Roma in der Eidgenössische Kommission gegen Rassismus. Die Selbstbezeichnungen von Roma, Sinti und Jenischen haben sich weitgehend durchgesetzt. Im Gegensatz zu Jenischen und Sinti wurde der Antrag der Roma auf eine Anerkennung als schweizerische Minderheit 2015 allerdings abgelehnt.

Auch haben in den letzten Jahren rassistische und diskriminierende Äusserungen gegenüber Sinti und Roma zugenommen, die Medienberichterstattung bleibt oft pauschalisierend und einseitig. Nicht zuletzt hat die Schweiz ihre höchst problematische Geschichte der «Zigeunerpolitik» bisher nicht aufgearbeitet. Die Folge: Klischees und Stereotypen werden bis heute unhinterfragt weitergegeben. Kein Wunder, dass die Schweizer Roma lieber unsichtbar bleiben wollen.

Viele Jahrzehnte riss die Pro Juventute systematisch jenische Familien entzwei. Über ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte:

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