Die Schweiz – Insel des süssen weissen Pulvers
Menschen, die sich Pakete mit kiloweise weissem Pulver überall an den Körper banden und diese auf abenteuerlichem Weg ausser Landes brachten: Anfang des 20. Jahrhunderts war die Schweiz internationale Drehscheibe für den Handel mit einer illegalen Substanz. Doch es war nicht Heroin - das damals übrigens völlig legal war - sondern der Süssstoff Saccharin.
Eine Romanszene von 1913: Ein unbescholtener Mann, frustriert von geschäftlichen Misserfolgen, steht in einem Hinterzimmer im Arbeiterquartier der Stadt Zürich. Er erhält Instruktionen, wie er weisses Pulver über die Grenze schmuggeln soll, 15 Kilogramm, am ganzen Körper verteilt.
Mit dem Zug fährt er nach Prag, die Ware am Körper, die Zöllner lassen ihn unbehelligt. Das Geschäft mit dem Pulver ist lukrativ – immer mehr wird der tragische Held zum Lügner und Verbrecher und schaut zunehmend in einen “bodenlosen Abgrund von Verdorbenheit, Tücke, Grausamkeit und tierischer Verrohung.“
Die Substanz hatte ihn nun im Griff, meint der Erzähler. Er müsse ihm folgen, dem «Ruf des Dämons»: «Komm, komm, ich lasse dich im Gelde wühlen! Reich sollst du sein». Unser Schmuggler ist verloren: «Tief hatte er sich in die Seele eingefressen, in die Seele geschlichen, der Dämon Saccharin.»
Das Zürcher Schmuggler-Milieu
Der Dämon hiess nicht Heroin, das 1898 erfunden wurde und sehr lange als Hustensaft legal verkauft wurde, nicht Kokain, das damals auch rege konsumiert wurde: Das Böse hiess Saccharin. Das synthetische Süssungsmittel. Doch der Autor der oben zitierten Kriminalgeschichte «Der Saccharinschmuggler», der weitgehend unbekannte Eduard Ehrensperger-Gerig, erlaubte sich 1913 keinen Spass, er wollte mit seinem «Sittenroman» die Schweizer Behörden aufrütteln.
Denn tatsächlich wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts tonnenweise Saccharin illegal über die Grenze geschmuggelt. Jenseits der Grenze lebten ganze Dörfer vom Schmuggel – im österreichischen Kappl, nahe dem schweizerischen Samnaun, steht bis heute eine Häusergruppe, die benannt ist nach dem Stoff, der sie finanziert hat: Die Saccharin-Siedlung. In ländlichen Gegenden galten Schmuggler oft als Helden, als Rebellen gegen unsinnige Grenzregimes – sie verdienten nicht nur Geld, sondern auch abenteuerlichen Ruhm.
Doch in der Schweiz waren auch städtische Regionen in den Schmuggel mit Saccharin involviert: 1912 beklagte ein Zürcher Kantonsrat, in Zürich würden 1000 Personen vom Saccharin-Schmuggel leben. Doch der Polizei seien die Hände gebunden, da in der Schweiz kein Saccharin-Verbot herrschte: «Höchstens könne man von dem verächtlichen Gesindel ausweisen, was schriftenlos sei.»
Die Schmuggler trugen es unter den Kleidern, eingenäht in Unterhosen, sie versteckten es in den Spülkästen von Eisenbahntoiletten, verwendeten Autos mit doppeltem Boden. Andere wählten moralisch verwegene Wege der Tarnung: So wurde einmal eine Gruppe erwischt, die über Wochen Schweizer in Konstanz jenseits des Rheins zu Grabe trug.
Doch statt Leichen lagen hunderte Kilos von Saccharin in den Särgen gebettet. Europaweit wurde darüber berichtet. Andere mischten den Süssstoff unter Kerzenwachs, liessen die Kerzen beim Kloster Einsiedeln weihen und von da an eingeweihte Katholiken in Wien schicken, die das wertvolle Gut wieder extrahierten.
Meist waren es Leute aus den unteren Schichten, manchmal auch Kinder, oft Frauen, die für Saccharin-Zwischenhändler weisses Pulver schmuggelten – und oft auch erwischt wurden. Regelmässig las man in der Zeitung über vereitelte Schmuggelversuche. Als anfällig galten Dienstmädchen, Verkäuferinnen, Näherinnen, die nicht sehr viel verdienten.
Für sie, hiess es, war das Schmuggeln von Saccharin der Einstieg in eine kriminelle Laufbahn: Die Zürcher Zeitung «Tages-Anzeiger» schrieb damals, die Frauen verlören dadurch sowohl «den Sinn zu regelmässiger Arbeit» als auch «jeglichen moralischen Halt» – es folge «ein Fallen von Stufe zu Stufe». Nur schon im Jahr 1912 wurden 931 Saccharin-Schmuggler an Schweizer Grenzen gefasst.
Die Illegalisierung von Saccharin
Saccharin kam ursprünglich dorther, wohin Schweizer es nun heimlich zurückschmuggelten: Aus Deutschland. Hier hatte es der Chemiker Constantin Fahlberg 1878 entdeckt – durch einen Zufall. Nach dem Experimentieren mit Teer schmeckten seine Hände süss und Fahlberg stellte erstaunt fest, dass er hier einen synthetischen Süssstoff gefunden hatte.
1887 begann er mit der Produktion in seiner eigenen Fabrik. Doch die europäische Zuckerlobby sah den Angriff der Surrogate nicht gerne. Insbesondere in Deutschland hatte man den Rübenzucker – eine junge Zucht- Innovation – Mitte des 19. Jahrhunderts bereits vehement gegen den Rohr-Zucker aus Übersee verteidigt: Mit Strafzöllen.
Nun kam die Bedrohung der hiesigen Zucker-Produktion nicht mehr nur aus den Kolonien, sondern aus dem Labor. Die deutsche Runkelrüben-Zucker-Lobby setzte zunächst auf Public Relations: Man plakatierte mit «Zucker gibt Kraft», liess an Schulen Unterrichtseinheiten halten, in denen die Vorzüge von Zucker dargestellt wurden. Das Ziel war: Zucker als wichtiges nährendes Nahrungsmittel darzustellen, während Saccharin als klebriges «Teersüss» disqualifiziert wurde.
Das klappte nur bedingt: Die Konsumzahlen von Saccharin stiegen dennoch in ganz Europa an. Um die Jahrhundertwende erliessen deswegen, unter dem Druck der Lobby, etliche europäische Staaten Gesetze, die Saccharin zum rezeptpflichtigen Diätmittel herabstuften. Ab 1902 war es in fast allen europäischen Staaten nur noch auf Rezept in der Apotheke erhältlich.
Saccharin war komplex in der Herstellung und deswegen eigentlich teurer in der Produktion als Zucker. Aber es war 550 Mal so süss wie Zucker – und damit unter dem Strich doch billiger. Das machte es zu einem attraktiven Ersatzmittel für ärmere Schichten, die es sich gewohnt waren, statt echtem Kaffee aus Bohnen solchen aus Zichorien zu trinken und die auch Margarine der Butter vorziehen musste. Deswegen hörten die Leute nicht auf, Saccharin in ihren Ersatzkaffee zu kippen – es entstand ein Schwarzmarkt.
Auch die Polizei rüstete auf: Spezialisierte Süssstoff-Dezernate wurden eingerichtet, die das weisse Pulver jagten wie heute Rauschgift-Dezernate den Handel mit Kokain und Heroin zu unterbinden versuchen. In Deutschland existierte ein «Zentralamt für die Verfolgung des Verkehrs mit künstlichen Süssstoffen.» Letztlich blieben die Behörden recht machtlos – ihre Arbeit bewirkte vor allem, dass sich die Schmuggelstrukturen zunehmend professionalisierten und dass das Saccharin, das im Umlauf war, oft gestreckt wurde, mit Gips oder Soda. Der Soziologe Roland Girtler bezeichnet den Saccharin-Handel als «Vorläufer des Rauschgiftschmuggels».
Keine Illegalisierung in der Schweiz
Die Schweiz wurde zum neuen Ursprungslands des Stoffs, weil Saccharin hier weder illegal noch mit hohen Steuern belegt war – nur Holland war ähnlich lax im Umgang mit der Substanz. In der Schweiz lag das daran, dass auch der Zucker stark von Steuern befreit war – nicht unbedingt nur aus liberaler Überzeugung, sondern weil man die hiesige Schokoladenindustrie vor zu grossen Kosten bewahren wollte. Deswegen war der Preisunterschied zwischen Saccharin und Zucker nicht allzu gross. Das künstliche Süssmittel war also auch kein Konkurrent für Schweizer Zuckerrüben.
Hier profitierte man von der Illegalisierung: Im Geschäftsbericht von Sandoz von 1902 schrieb man, das Verbot von Saccharin eröffne für die Basler Industrie äusserst «günstige Perspektiven» – tatsächlich stieg die Bedeutung von Saccharin für die Chemiefabrikanten in den folgenden Jahren massiv an. Bis zur Gesetzesänderung hatte Sacharin in der schweizerischen Handelsstatistik keine Rolle gespielt – ab 1906 wird es gesondert aufgeführt.
In jenem Jahr erscheint es mit einem beträchtlichen Anteil von 34% am Exportvolumen und ist das wichtigste Produkt der Branche. Das war primär darauf zurückzuführen, dass die Konkurrenz im Ausland ausgeschaltet war – Länder wie die USA oder Japan bezogen nach wie vor grössere Mengen an Saccharin. Doch ungefähr die Hälfte der Produktion ging an Zwischenhändler, die das Saccharin durch Schmuggel weiterverteilten.
Das Ende der kurzen Saccharin-Ära
Ausgerechnet eine in Genf sitzende Organisation initiierte den europäischen Widerstand gegen die Schweizer Sonderposition. Das Weisse Kreuz, deren Mitglieder gegen Übel wie Syphilis, Alkoholismus und Rauschgiftsucht ankämpfen wollten, schrieb sich nun auch den Kampf gegen das künstliche Süssungsmittel Saccharin auf die Fahnen. Die Organisation richtete sogar mehrere internationale Konferenzen zur Frage aus, wie man den Schmuggel der Substanz in den Griff kriegen konnte.
An diesen Konferenzen, die 1909 und 1911 stattfanden, sah sich die Schweiz Vorwürfen ausgesetzt, ein Schmugglernest und eine Produktionsstätte illegaler Substanzen zu sein. Als Reaktion machte man Zugeständnisse und die chemische Industrie stoppte Lieferungen an Zwischenhändler, denen Schmuggel nachgewiesen worden war, – oft aber erst Jahre nach deren Verurteilung.
Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden Ersatzstoffe aller Art wieder gefragt – und die goldene Ära des Saccharinschmuggels war vorbei. Im Satireblatt «Nebelspalter» beschwert sich nach Kriegsausbruch ein Süssstoffschmuggler beleidigt, er werde an der Grenze ja kaum mehr noch angesehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt das Geschäft kurz wieder auf: Nach Italien kann man noch lukrativ schmuggeln, doch in den 1960er-Jahren verläuft sich das Geschäft endgültig. Zucker gerät – auch nach den Weltkriegen – weiter unter Druck: Nun nicht mehr durch die Gaumen der Armen, sondern durch die Bäuche der Reichen: Als Kalorienbombe verrufen, droht ihm heute wieder Besteuerung.
Quellen:
Eduard Redelsperger-Gerig: Der Saccharinschmuggler: ein Sittenroman aus der Gegenwart. Gossau-St. Gallen 1913.
Roland Girtler: Abenteuer Grenze. Von Schmugglern, Schmugglerinnen, Ritualen und „heiligen Räumen“. Wien 2006.
Christoph Maria Merki: Zucker gegen Saccharin: zur Geschichte der künstlichen Süssstoffe. Frankfurt/Main 1993.
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