«Die Schweiz könnte von Deutschland lernen»
"Wir haben in der Schweiz eine starke Demokratie, aber einen schwachen Rechtsstaat", sagt der in Zürich und Berlin lebende Schweizer Publizist und Europa-Experte Roger de Weck im Gespräch mit swissinfo nach der Bundesratswahl.
swissinfo: Was ist Ihnen bei der Bundesratswahl aufgefallen?
Roger de Weck: Die Bundesversammlung hat mit einer Enthaltung, ausnahmslos Kandidaten aus der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gewählt. Ein Parlament, das bis auf einen einzigen Volksvertreter Leute aus derselben Partei wählt, ist etwas weltweit Einmaliges.
swissinfo: Es wurde argumentiert, die SVP sei in der Regierung untervertreten.
R. W.: Das Wort ‹untervertreten› unterstellt, dass wir eine Proporzregierung hätten, wo gemäss der Stärke der Fraktionen, des Parlaments oder des Wähleranteils jede Partei gleichsam Anrecht hätte auf so und so viele Sitze im siebenköpfigen Bundesrat. Dem ist nicht so. Was das bisherige politische Spiel in der Schweiz geprägt hat, ist die Konkordanz. Dieses lateinische Wort bedeutet Übereinstimmung. Wenn es ein Mindestmass an Übereinstimmung gibt, einigt man sich auf eine Verteilung der sieben Sitze der kollegialen Regierung.
swissinfo: Das Image der Schweiz im Ausland hat unter der Ära Christoph Blocher gelitten. Was wird sich mit Ueli Maurer ändern?
R. W.: Wir werden nun einen Minister haben, der in seinem politischen Vorleben Plakate verantwortete, die eindeutig an die rassistischen Gefühle der Schweizerinnen und Schweizer appellierten und deshalb auch grosses Aufsehen im Ausland erregten. Allerdings hat die deutsche Presse eher den Aspekt unterstrichen, dass Christoph Blocher nicht mehr gewählt wurde und aus der Fernsicht deutscher Journalisten möglicherweise jetzt keine Rolle mehr im politischen Spiel der Schweiz spielen werde.
swissinfo: Wird Blocher von der politischen Bühne verschwinden?
R. W.: Ich bezweifle es. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Christoph Blocher den nun durch die Wahl von Ueli Maurer freiwerdenden Sitz als Präsident der mächtigen Zürcher SVP haben will und auch bekommt.
Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass er weiterhin mit seinem Geld SVP-Kampagnen finanziert. Als er über seine Partei verärgert war, weil er nicht aufgestellt wurde, warnten besorgte Stimmen davor, Blocher zu brüskieren, weil der sonst die Partei nicht mehr finanzieren würde. Dabei war von Beträgen zwischen zehn und zwölf Millionen Schweizer Franken die Rede, die er für Kampagnen jährlich aufwende. Das ist für Schweizer Verhältnisse gigantisch und weit mehr, als jede andere Partei hat.
In den kommenden Jahren muss mehr Transparenz in der Finanzierung von Parteien, von Abstimmungs- und Wahlkampagnen geschaffen werden. Diese Modernisierung unserer politischen Institutionen ist überfällig. Dass jetzt unerkannte und heimlich agierende Finanzmacht letztlich so grossen Einfluss auf die Politik haben kann, ist ungesund, erst recht auf dem Hintergrund der Finanzkrise.
swissinfo: In vielen Ländern Europas haben Rechtspopulisten zunehmend Erfolg. Christoph Blocher wurde im Ausland oft mit Le Pen in Frankreich, Haider in Österreich, Berlusconi in Italien verglichen. Inwiefern stimmen diese Vergleiche?
R. W.: Jeder Populismus hat seine eigene Prägung. Ein direkter Vergleich verbietet sich aus meiner Sicht. Aber es gibt Grundmuster des Rechtspopulismus in Europa. Die Gemeinsamkeiten sind die, dass es meist eines starken Mannes bedarf, dass dieser starke Mann oft sehr reich ist und viel Geld für die eigene Politik verwendet.
Ein weiteres Kennzeichen ist eine objektive Koalition zwischen den Populisten und den Boulevardmedien. Beide bedienen sich derselben Stilmittel, sie bieten einfache Lösungen an, setzen auf Konflikt statt Kompromiss und bevorzugen die Emotionalisierung der Politik.
swissinfo: In Deutschland gibt es gegenwärtig keinen prominenten Rechtspolitiker. Hat dieses Land aus seinen Fehlern gelernt?
R. W.: Deutschland steht nach wie vor im Banne seines Traumas mit dem Nationalsozialismus, und das ist auch gesund. Dass hier so schnell ein starker Mann von Rechts käme, ist undenkbar. Das spricht für die Bundesrepublik und die Lebendigkeit ihrer heutigen Demokratie.
Das deutsche Grundgesetz ist eine der besten Verfassungen überhaupt auf der Welt. Wenn es ein Land gibt, das nun wirklich zur Demokratie gefunden hat und zwar zu einer sehr gesunden Demokratie, die wie alle ihre Probleme und Fehlentwicklungen hat, im Kern aber für eine gute Verteilung der Macht und die Verhinderung von Übermacht sorgt, dann ist es die bundesrepublikanische.
swissinfo: Die Schweiz präsentiert sich gerne als Muster-Demokratie. Was können wir von Deutschland lernen?
R. W.: Den Rechtsstaat. Wir haben in der Schweiz eine starke Demokratie, aber einen schwachen Rechtsstaat. Dadurch, dass über Volksabstimmungen die einzelnen Artikel unserer Bundesverfassung geändert werden können und manchmal die Bundesverfassung so missbraucht wird, dass sie einem Gesetz ähnelt, dadurch, dass wir eine so starke Demokratie haben, vergessen wir den Rechtsstaat und den Schutz von elementaren Grundrechten.
Eine Reihe von fremdenfeindlichen Initiativen, die von der SVP lanciert oder unterstützt wurden, verletzen die Menschenrechte. Die Minarett-Initiative, die den Bau von Minaretten verbieten will, schränkt die Religionsfreiheit ein. Die Ausschaffungsinitiative, die nicht nur kriminelle Ausländer ausweisen will, sondern auch ihre Familien und Angehörigen, knüpft an das nationalsozialistische Prinzip der Sippenhaftung an – etwas völlig Menschenrechtswidriges.
Den besseren Schutz der Grundrechte, wie er in der Bundesrepublik praktiziert wird, den könnten wir von Deutschland durchaus lernen.
swissinfo: Fördert die direkte Demokratie der Schweiz populistische Bewegungen?
R. W.: Ja, das tut sie. Aber es gibt auch starke populistische Bewegungen ohne direkte Demokratie. Der schweizerische Populismus kann sich, anders als manche andere Rechtspopulismen in Europa, schon von der Zusammensetzung der Schweiz her nicht ethnisch definieren. Es gibt keine Schweizer Ethnie, sondern wir sind ein Volk vieler Kulturen, vieler Sprachen.
Der Schweizer Populismus definiert sich eher durch eine Verabsolutierung der Demokratie. Er sagt, dass alles, was die demokratische Freiheit des Volkes auch nur im mindesten einschränke, schon unerträglich sei. Diese Haltung zeugt von einer fehlenden Balance zwischen Demokratie und Rechtsstaat.
Unsere Gründerväter haben bewusst nicht alles und jedes dem Volk überlassen. Wenn eine absolute Volksherrschaft, ein demokratischer Absolutismus herrschen würde, würden die Minderheiten überfahren. Unser politisches System wollte das verhindern. Die Populisten, die sich auf die schweizerischen Werte berufen, ignorieren diese wertvolle Schweizer Tradition.
swissinfo-Interview: Susanne Schanda
Roger de Weck (55) ist Publizist in Zürich und Berlin. Er schreibt für deutsche, französische und Schweizer Zeitungen. Auch ist er Moderator der Fernsehsendung «Sternstunden».
Der zweisprachige Freiburger ist Präsident des Stiftungsrats des Genfer Hochschulinstituts für internationale Studien (HEI) und Gastprofessor am Europa-Kolleg in Brügge und Warschau.
Zuvor war er Chefredaktor des Tages-Anzeigers und der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit.
De Weck ist Mitglied des Pen Clubs, Stiftungsrat des Karlspreises in Aachen, Ehrendoktor der Universität Luzern und Träger des Medienpreises Davos. Er hat in St. Gallen Volkswirtschaft studiert.
Am 10. Dezember 2008 wurde Ueli Maurer in den Bundesrat gewählt. Damit ist die Schweizerische Volkspartei (SVP) wieder in der Schweizer Landesregierung vertreten.
2007 wurde der damalige SVP-Bundesrat Christoph Blocher nicht wieder gewählt. An seiner Stelle wählte das Parlament Eveline Widmer-Schlumpf aus dem gemässigten Flügel der SVP.
Darauf wurde die Bündner Sektion der SVP und damit Widmer-Schlumpf aus der Partei ausgeschlossen.
Der gemässigte Flügel spaltete sich danach von der SVP ab und gründetete die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP), der sich auch Bundesrat Samuel Schmid (ex-SVP) anschloss.
Damit war die wählerstärkste Partei der Schweiz nicht mehr in der Landesregierung vertreten. Seither fordert sie lautstark einen Sitz im Bundesrat.
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