Die Schweizer Künstlerin Mona Caron malt die Natur in die Stadt
Sie wollte Schriftstellerin werden, fand aber eine andere Art, Geschichten zu erzählen. Seit über zwanzig Jahren bemalt die Tessinerin Mona Caron Wände in San Francisco, Mumbai, New York. Mit einer Botschaft für eine bessere Welt.
«Wollen wir spazieren gehen?» Sie lächelt und ist noch nicht einmal ausser Atem, weil sie die drei Stockwerke ihres viktorianischen Hauses hinuntergestiegen ist, um mir etwas zu zeigen.
Wir sind in San Francisco, zwei Strassen vom berühmten Blauen Haus entfernt, das Maxime Le Forestier besungen hat – das Haus, in das man «zu Fuss geht», wo man «nicht anklopft», weil «jene, die dort wohnen, den Schlüssel weggeworfen haben»…
Aber sie führt mich in die andere Richtung, mit dem schnellen Schritt einer sportlichen jungen Frau um die fünfzig. Nur wenige Schritte von ihrem Haus entfernt befindet sich eines der ersten Wandbilder, die sie vor 20 Jahren in San Francisco gemalt hat.
Es ist etwa zehn Meter lang und drei Meter hoch und zeigt ein Panorama der ersten drei Blocks der Market Street, einer der belebtesten Strassen der Stadt, die am Ferry Building, dem Wahrzeichen der Stadt, am Ufer der Bay beginnt.
Der Spaziergang ist auch eine Zeitreise. Er beginnt in Sepiatönen und wird mit fortschreitender Dauer immer farbiger. Wie viele frühe Fresken von Mona Caron stellt auch dieses die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft dar.
Und in allen drei Epochen ist die Strasse belebt. Menschen gehen, rennen, flanieren, treiben Sport, verweilen auf Terrassen, betreten und verlassen Geschäfte, demonstrieren – manchmal begleitet von der Polizei.
«Ich wollte eine Vielfalt von Ereignissen zeigen, die auf der Strasse stattfinden. Es ist eine Art zu feiern, wofür und für wen die Strasse da ist und wie die Dinge, die dort geschehen, die Gesellschaft verändern können», sagt die Künstlerin.
Die Seele der Strasse
«Eigentlich wollte ich schon immer Geschichten erzählen, ich bin die geborene Erzählerin», sagt Caron, die Ende der 1990er-Jahre an die Westküste kam, um Literatur zu studieren. Eigentlich wollte sie Schriftstellerin werden, entschied sich dann aber doch für eine andere Art der Kommunikation.
2011 machte sie sich daran, ein Industriegebäude aus der Belle Epoque im Tenderloin zu dekorieren. Dieser Stadtteil hat mit seinen Bars mit roten Laternen, offenen Drogenszenen und Zelten auf dem Trottoir einen düsteren Ruf.
Über sechs Monate lang tauchte die Künstlerin, die sich selbst als «langsamste Künstlerin der Welt» bezeichnet, in das Leben des Viertels ein und knüpfte Beziehungen zu einigen seiner schillerndsten Figuren, die sie in ihr Wandgemälde integrierte.
«Ich male keine Superhelden. Ich versuche nur, die Geschichte so darzustellen, wie ich sie sehe», sagt sie. Auch hier zeigen die Bilder Vergangenheit, Gegenwart und eine idealisierte Zukunft.
Die Journalistin und Regisseurin Paige BiermaExterner Link filmte den gesamten Entstehungsprozess und realisierte daraus einen bewegenden 24-minütigen Dokumentarfilm. Er wurde 2013 mit einem Emmy ausgezeichnet und für seinen optimistischen Blick auf ein viel gescholtenes Viertel gelobt.
>> Der Film heisst «A Brush with the Tenderloin» und ist auf Youtube zu sehen.
«Ich war wirklich jahrelang eine lokale Künstlerin hier in San Francisco», erinnert sich Caron. Eine sehr engagierte Künstlerin, die man oft mit den Aktivistinnen und Aktivisten der Stadt gesehen hat, bei den Demonstrationen für «Black Lives Matter», aber auch mit den sozialen Bewegungen in Lateinamerika oder bei der Klimakonferenz in Paris 2015.
«Ein Grossteil meiner Arbeit hat einen politischen Inhalt, auch wenn das nicht immer so gesehen wird», gibt sie zu. Sie mag das Etikett «Artivistin», das ihr manchmal angeheftet wird, nicht mehr so gerne: «Ein lustiges kleines Wort, aber es wurde so überstrapaziert, dass es nicht mehr viel aussagt.»
Die Künstlerin erwartet nicht mehr den grossen Umbruch, auch wenn sie nach wie vor an die Kraft der kollektiven Aktion glaubt.
«Es muss nicht unbedingt spektakulär sein, aber mit ihren kleinen lokalen Aktionen können auch ganz normale Menschen die Welt verändern, die Gesellschaft verändern, eine Stadt oder zumindest ein Viertel verändern.»
Das «Unkraut» des Kapitalismus
Nach dem Tenderloin-Abenteuer und einem guten Jahrzehnt, in dem Caron Strassenutopien malte, die völlig in der lokalen Realität verankert waren und vor Details nur so strotzten, änderte sie ihren Stil.
In San Francisco malte sie ihre ersten «Weeds» an die Wände. Diese Pflänzchen, die so zart sind, dass man sie mit dem Fuss zertreten könnte, wenn sie aus den Ritzen eines Trottoirs ans Licht streben, wuchsen plötzlich Dutzende Meter in die Höhe.
In den sozialen Netzwerken sorgten sie schnell für Furore. Die Wandmalerin ist plötzlich gefragt, in New York, Kansas, Bolivien, Ecuador, Brasilien, Argentinien, Mumbai, Taiwan und neuerdings sogar in Le Locle in den Neuenburger BergenExterner Link.
Für die Künstlerin ist diese Entwicklung zu einem Gigantismus ohne Grössenwahn nur formal. Die Botschaft bleibt: «Diese Pflanzen sind Metaphern. Ich erzähle die gleiche Geschichte auf eine andere Art und Weise.»
Indem sie Pflanzen, die niemand zu schätzen weiss, eine Art «grosses heroisches Denkmal» setzt, will sie die Widerstandsfähigkeit von Gemeinschaften symbolisieren, selbst in einer scheinbar unerbittlichen Umwelt.
«Beton oder Asphalt zu durchdringen, scheint aussichtslos. Aber langsam, mit Beharrlichkeit, schaffen es diese kleinen, zerbrechlichen Dinger», sagt Caron.
Sie sieht darin die Hoffnung, das kapitalistische System, das so stabil wie Beton zu sein scheint, auf ähnliche Weise aufbrechen zu können.
Nicht durch eine gewaltsame Revolution, die alles zerstört, sondern «indem wir Orte finden, an denen das System nicht allmächtig ist, indem wir durch gemeinsame Anstrengungen Alternativen aufbauen».
Die Stadt der Gutverdienenden
Ist San Francisco mit seiner starken Zivilgesellschaft und all den alternativen Lebenserfahrungen seit der Hippie-Welle der 1960er-Jahre der ideale Ort für eine friedliche Revolution?
«Ich bin seit Jahrzehnten hier und habe den Wandel miterlebt, die Gentrifizierung, für die diese Stadt ein Paradebeispiel ist», sagt Caron.
Hier haben sich die Bemühungen der Stadtverwaltung, die Lebensqualität zu verbessern, wirklich ausgezahlt. Die Stadt wurde lebenswerter, die Menschen strömten herbei, die Preise stiegen.
Heute ist San Francisco nach New York die zweitteuerste Stadt der USA. Der Preisindex ist fast doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt.
Das führte dazu, dass selbst die Menschen, die sich für den Aufbau einer lebenswerten Umwelt eingesetzt haben, es sich oft nicht mehr leisten können, dort zu wohnen – wenn eine einfache Einzimmerwohnung 3000 Dollar im Monat kostet und eine Vierzimmerwohnung leicht das Doppelte.
«Die Gemeinschaften sind immer noch stark und widerstandsfähig, aber wir sind jetzt weiter voneinander entfernt und über die ganze Bay Area verstreut. Wir waren stärker, als wir physisch näher beieinander wohnten», sagt sie.
Der Sinn für das Mögliche
Die Naturliebhaberin sagt, sie habe sich überall zu Hause gefühlt, wo sie gelebt und gearbeitet habe. Besonders verbunden ist sie jedoch der wilden Schönheit des Centovalli, ihrer Heimat im Kanton Tessin. Hat sie Angst vor der Klimaerwärmung und dem Verlust der Artenvielfalt?
«Natürlich leben wir in einer sehr düsteren Zeit, aber wir werden auch stark von dem beeinflusst, was wir in den Medien hören und sehen. Denn es gibt viele Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten an Lösungen arbeiten, vor allem hier in Kalifornien», sagt die Künstlerin.
Sie bedauert, dass nicht genug darüber berichtet wird, was im Bereich der nachhaltigen Lebensmittel- oder Energieproduktion passiert, denn «das wäre ein guter Weg, um Hoffnung zu geben und die Menschen zu ermutigen, sich zu beteiligen». Auch wenn sie einräumt, dass es dafür vielleicht schon zu spät ist.
Aber so wie sie das Unkraut in der Stadt sichtbar gemacht hat, ist Caron überzeugt, dass «trotz des vorherrschenden Narrativs der Hoffnungslosigkeit» die Menschen mitmachen, sich einbringen und weiterhin darauf achten müssen, was die anderen tun.
«Solange die Kommunikation von Mensch zu Mensch stattfindet, gibt es Hoffnung. Vor allem hier, weil es einen Sinn für das Mögliche gibt.» Das habe sie gleich bei ihrer Ankunft gespürt.
Mona Caron, die auf Instagram fast 67’000 FollowerExterner Link hat, ist auch eine Multimedia-Künstlerin. Einige ihrer Kletterpflanzen hat sie mit der Stop-Motion-Technik gefilmt, bei der praktisch jeder neue Pinselstrich fotografiert wird, so dass Betrachtende den Eindruck haben, die Pflanze wachse an der Wand.
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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