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Die schwierige Renaissance des Monte Verità

Tanzschule Rudolf von Laban auf dem Monte Verità. zVg

Der "Berg der Wahrheit" war einst ein Ort für Utopisten und Lebenskünstler. Nun will der Kanton Tessin an die Ursprünge anknüpfen – allerdings in eher intellektueller Form. Der erste "Locarneser Frühling" mit neuen Utopien und Obsessionen startet Ende März.

Der «Berg der Wahrheit» über Ascona war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Mekka für Revolutionäre, Aussteiger und Utopisten aller Art. Eine kleine Kolonie von Vegetariern, die das Leben in der Natur und die freie Liebe predigten.

Der Ruf des «Monte Verità» – eigentlich ein Hügel – verbreitete sich in ganz Europa und zog viele Neugierige und Besucher an, darunter auch Hermann Hesse.

Später war es ein Ort für Avantgarde-Künstler wie Alexej Jawlensky, Paul Klee oder Marianne Werefkin. Der bedeutende Kunstsammler und Mäzen Eduard von der Heydt liess dort 1928 ein Hotel von Emil Fahrenkamp im Bauhaus-Stil erstellen. 

Der Berg ging 1964 nach dem Tod von der Heydts aufgrund einer testamentarischen Verfügung in den Besitz des Kantons Tessin über. Doch der Kanton tat sich immer schwer mit diesem Erbe. Denn im Testament hatte von der Heydt ausdrücklich geschrieben, «dass der Monte Verità für künstlerische und kulturelle Aktivitäten von internationaler Ausstrahlung genutzt werden muss».

Stiftung und ETH

Wie man diesem Willen gerecht werden kann, ist bis heute letztlich nicht geklärt. Tatsache ist indes: Seit 1989 ist der Monte Verità ein Kongress- und Kulturzentrum, das von einer Stiftung getragen wird, die vom Erziehungsdirektor des Kantons Tessin präsidiert wird. Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH) mit dem Centro Stefano Franscini ist ein wichtiger Bestandteil.

Jedes Jahr veranstaltet dieses Zentrum eine Vielzahl wissenschaftlicher Kongresse und Tagungen – vor allem naturwissenschaftlicher Art. Darüber hinaus betreut die Stiftung ein Kulturprogramm, das sich an die einheimische Bevölkerung und Feriengäste wendet.

Unter seinem langjährigen Direktor Claudio Rossetti hat sich der Monte Verità im Bereich der Verteidigung von Menschenrechten einen Namen gemacht. Unter dem neuen, seit 2011 amtierenden Direktor Lorenzo Sonognini gibt es wesentlich mehr Veranstaltungen zu philosophischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Themen.

Die Eröffnung der 1. Literaturtage Monte Verità unter dem Titel «Utopien und herrliche Obsessionen» erfolgt am Abend des 21. März mit dem bekannten italienischen Intellektuellen Claudio Magris.

Am 22. März sind der Philosoph Salvatore Veca und der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin zu Gast, ausserdem die italienische Dichterin Patrizia Cavalli und die Sängerin Diana Tejera.

Am 23.März gibt sich unter anderen der bekannte deutsche Autor Hans Magnus Enzensberger die Ehre. Er liest aus seinem Buch «Meine Lieblingsflops».

Zum Abschluss am 24.März findet sich ein vieldiskutierter deutscher Philosoph ein: Peter Sloterdijk. Er nimmt am Podiumsgespräch zum Thema «Warum scheitern Utopien?» teil.

Im Rahmen der viertägigen Literaturtage wird zudem der erste Enrico-Filippini-Preis übergeben. Er wird an Personen verliehen, die sich hinter den Kulissen der Kulturbranche für die Literatur stark machen. Der Preis geht 2013 an den Jurassier Bernard Comment.

Von den Menschenrechten zum Tanz

Diese Ausrichtung zeigt sich deutlich im Programm der Events 2013, in der Vorträge wie «Mystische Stimmen im Dialog ausserhalb der Zeit» oder «Was ist eine gute Weltanschauung?» oder «Die Bedeutung von C.G. Jung heute» angeboten werden. Die Zusammenarbeit mit der Stiftung Eranos wurde intensiviert.

Der wichtigste Schwerpunkt liegt 2013 aber eindeutig im Bereich des Tanzes. Man gedenkt Rudolf von Laban, der vor genau hundert Jahren nach Ascona kam, um hier seine berühmten Sommertanzkurse durchzuführen. Im Oktober wird eine spezielles «Laban Event 2013» angeboten.

Der Monte Verità ist in seinem Angebot eingeschränkt, denn die finanziellen Mittel sind beschränkt. «Wir kämpfen jedes Jahr mit den Finanzen», sagt Direktor Sognonini, der ein Budget von rund 4 Millionen Franken verwaltet, in dem auch die Verwaltung der angegliederten Brissago-Inseln enthalten ist.

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Wiedereröffnung der Casa Anatta 2015?

Diese anhaltenden Finanzprobleme spiegeln sich in der traurigen Geschichte um die Casa Anatta. Das alte Holzhaus aus der Gründerzeit der Vegetarier-Kolonie hat jahrelang die permanente Ausstellung über die Geschichte und Tradition des Monte Verità beherbergt.

2008 musste es geschlossen werden, weil es sogar durchs Dach regnete. Die Suche nach Geldern zur Restauration dieses historischen Gebäudes erwies sich als äusserst schwierig. Angeblich wurde die letzte Million soeben aufgetrieben. Vier Millionen Franken sind nötig.

Doch vor 2015 wird die Ausstellung «Monte Verità» kaum wieder zugänglich sein. Es handelt sich im Prinzip um die legendäre, vom Berner Ausstellungsmacher Harald Szeemann (1933-2005) erstellte Dokumentation über die verschiedenen Epochen auf dem Berg der Wahrheit. Die Ausstellung lagert nun vorübergehend im Kantonsarchiv.

Die vom Filmfestival Locarno organisierte Reihe L’immagine e la parola (Bild und Wort) wird am Abend des 24. März im Teatro di Locarno mit der internationalen Premiere von Der Student von Prag (1913) von Hanns Heinz Ewers eröffnet. Der Stummfilm basiert auf einer Erzählung von Edgar Allan Poe.

Die Soirée des 25. März wiederum ist dem italienischen Film gewidmet mit der Schweizer Premiere von Alì ha gli occhi azzurri, einem vielfach preisgekrönten Film und das Debüt des Dokumentarfilmemachers Claudio Giovannesi.

Die Nachmittage gehören der Hommage an zwei verstorbene Schriftsteller: Antonio Tabucchi soll am 25. März – ein Jahr nach seinem Tod – mit der Vorführung von Alain Tanners Requiem gewürdigt werden.

Am 26. März bietet sich die Möglichkeit, den sardischen Autor Sergio Atzeni zu würdigen – mit dem Film von Salvatore Mereu, der auf dem gleichnamigen Roman Atzenis, Bellas mariposas, basiert.

Schub durch Locarneser Frühling

Doch Erziehungsdirektor Manuele Bertoli als Präsident der Stiftung Monte Verità hat sich vorgenommen, die Aussenwirkung des Monte Verità weiter zu verstärken. Aus diesem Grund hat er die Veranstaltung Primavera Locarnese (Locarneser Frühling) lanciert, die Ende März nun zum ersten Mal stattfindet.

Bertoli will mit seiner Initiative zwei Fliegen auf einen Schlag treffen. Denn neben dem Monte Verità will er auch das Filmfestival von Locarno ausserhalb der eigentlichen Festivalzeit (im August) fördern. Dies war von vielen Politikern gefordert worden.

Im Rahmen dieses Kulturfrühlings wird zuerst auf dem Monte Verità, wegen Platzproblemen auch im Teatro Gatto von Ascona, ein Literaturfestival stattfinden (21. – 24.3.). Es steht – ganz im Geiste des Monte Verità – unter dem Motto: «Utopien und herrliche Obsessionen». Aus dem deutschsprachigen Raum werden Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und Philosoph Peter Sloterdijk anreisen.

Literatur und Film

Gleich anschliessend an das Literaturfestival findet die erste Spin-Off-Veranstaltung des Filmfestivals von Locarno statt (24.- 27. März). Vier Tage werden dem Verhältnis von Literatur und Film gewidmet.

Mehr als zufrieden über die neuen Initiativen ist Marco Solari, Präsident von Ticino Turismo: «Ich bin überzeugt, dass wir hier ein Qualitätsangebot schaffen und in die richtige Richtung gehen.» Er sei im Übrigen immer erstaunt, wie bekannt der Monte Verità nach wie vor in Deutschland sei.

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